Als die schwarzen Feen kamen
zurückzuckte, als sie versehentlich eine der Schlangen streifte. In angewiderter Faszination starrte Marie auf das Bild. Das war es also, was Gabriel hinter den Menschen sah? Wessen Schatten mochte das sein? Schnell legte sie das Bild zur Seite und griff nach dem nächsten– ohne viel Hoffnung, dass es weniger schrecklich sein könnte. Es zeigte eine haarige, spinnenähnliche Kreatur, die am ganzen Körper und selbst an den langen Beinen mit menschlichen Augen bedeckt war, die in alle Richtungen schauten und Marie dennoch zu beobachten schienen. Sie fühlte, wie die Haare in ihrem Nacken sich vor Furcht und Ekel aufrichteten, während sich ihr Arm im gleichen Moment bereits nach dem nächsten Bild ausstreckte. Bei seinem Anblick hätte sie am liebsten das Laken über die Leinwände geworfen und vergessen, dass sie jemals einen Blick darunter gewagt hatte. Aber sie konnte nicht. Es war abstoßend und zugleich faszinierend.
Ein undefinierter Klumpen blassrötlichen Schleims klebte in der Mitte der Leinwand, in dessen Inneren Menschenknochen und halb zersetzte Körperteile eingeschlossen waren. Marie drehte sich der Magen um, und hastig legte sie die Leinwand beiseite– nur um die in die Hand zu nehmen, die darunter gelegen hatte. Die Kreaturen zogen sie völlig in ihren Bann. Die nächsten Stunden verbrachte sie damit, sich wie im Zwang Stapel für Stapel durch die Gemälde und Zeichnungen zu wühlen, die Gabriels Wohnung füllten. Nach einer Weile vergaß sie sogar, angespannt darauf zu lauschen, ob seine Schritte schon auf der Treppe erklangen, oder sich zu fragen, wann er wohl zurückkehren würde. Die Zeit glitt ihr vollkommen aus den Händen, während sie die unzähligen Kreaturen betrachtete, die Gabriel eingefangen hatte wie einen bizarren Zoo. Jede von ihnen war einzigartig, jede auf ihre eigene Weise grauenerregend. Viele von ihnen waren ihr vollkommen fremd, andere wiederum schienen ihr unheimlich vertraut, obwohl sie sich sicher war, sie noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben. Schon nach kürzester Zeit wunderte Marie sich überhaupt nicht mehr, dass Gabriel die Bilder umdrehte, abdeckte oder unter das Sofa schob. Und trotzdem konnte sie nicht aufhören, in morbider Faszination eine Leinwand nach der anderen in die Hand zu nehmen und Skizzenbücher durchzublättern, die mit rohen Zeichnungen in wilden, harten Strichen gefüllt waren. Zum Teil hatte der Stift sogar die Seiten zerrissen. So viel Angst. So viel Zorn. So viel Traurigkeit.
Ein Schauer schüttelte Marie und ließ sie frösteln, obwohl die Heizung die Luft in dem kleinen Raum inzwischen aufgewärmt hatte. Diese Monster. Wie lebte Gabriel nur damit? Jeden Tag. Wie schrecklich musste sein Leben bisher gewesen sein? Und er sah ja nicht nur die Bilder. Er sah sie in Wirklichkeit, wie sie sich bewegten, ihn anstarrten, ihre Hände nach ihm ausstreckten…
Eine Gestalt, bemerkte sie nach einer Weile, tauchte immer wieder auf. Ein riesiges, menschenähnliches Wesen mit langen, glänzenden Klauen und düster glühenden Augen hinter verfilztem Haar. Wunden bedeckten den ausgemergelten Körper. Schwarzes Blut rann heraus und hinterließ Brandnarben auf der Haut, die einmal weiß gewesen sein musste, nun aber in rußigen Fetzen von den sehnigen Gliedern hing. Das Motiv zog sich durch alle Bilderserien, zeigte die Bestie in allen möglichen Stadien der Entstellung, beim Zerfleischen eines Opfers, wie sie an den Gitterstäben eines Kerkers rüttelte und wie sie sich selbst die Eingeweide aus dem Leib riss. Sie war die schrecklichste Kreatur von allen– und zugleich die Einzige, die sich selbst auf beinahe jedem Bild selbst Leid zufügte. Ein Kloß bildete sich in Maries Kehle. Ihre Finger umklammerten den Rahmen der Leinwand, dass die Knöchel weiß hervortraten. War das etwa…? Konnte das am Ende GabrielsSchatten sein? Ein Schauer schüttelte ihren Körper. Jetzt verstand sie. Sie begriff nur zu gut, warum er sich weigerte, darüber zu sprechen. Und sie wusste auch, warum sie selbst am Sonntag instinktiv keine weiteren Bilder hatte ansehen wollen. Dies war etwas, das niemand sehen sollte. Es war nicht für Menschenaugen bestimmt. Auch nicht für Gabriels. Nur konnte er sich nicht dagegen wehren.
Langsam legte sie das letzte Bild wieder zurück und griff wie mechanisch nach dem nächsten Stapel. Wieder diese Bestie. Ihr Anblick war Marie inzwischen geradezu vertraut. Sie starrte sie an, aus wilden, traurigen Augen, und weinte blutige Tränen. Marie
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