Als die schwarzen Feen kamen
das habe ich mir zunutze gemacht.«
Mit diesen Worten ließ er die feine Klinge fast zärtlich über den Hals des Wurms gleiten. Ein glatter Schnitt öffnete sich, und eine zähe, schwarze Flüssigkeit troff hervor.
In diesem Augenblick riss die Bestie in wilder Wut die Kontrolle über Gabriels Wahrnehmung an sich. Mit roher Gewalt drängte sie sich schmerzhaft in seinen Geist, warf ihn in die Schatten, stürzte vorwärts und sprang auf den Doktor zu, in einem verzweifelten Versuch, Gabriels Körper zu zwingen, ihr zu folgen, um dem Therapeuten die Kehle aufzureißen und ihn ein für alle Mal zu beseitigen. Gabriel keuchte auf. Er riss an der Kette, die er dem Biest angelegt hatte, zwang es zurück, während sein Bewusstsein zwischen den Welten schwankte und er jeden Moment befürchten musste, ohnmächtig zu werden. Nur eins sah er noch klar vor sich: Die sprechenden Augen des Wurms, der Todesqualen litt und um Hilfe flehte. Das Blut, das er verlor, musste das fremder Schattenkreaturen sein, die er angegriffen und ausgesaugt hatte, bis sie starben und verschwanden– die Schattenkreaturen der Patienten, die Dr. Roth über die Jahre hinweg behandelt und für seine eigenen Zwecke ausgenutzt hatte.
Gabriel hatte das Gefühl, in die Augen des Wurms hineinzufallen wie in einen Brunnen voller Bilder. Er sah ein Zimmer und wusste, dass es das von David war. Der Junge lag auf dem Boden, blutüberströmt, das Küchenmesser noch in der Hand, mit dem er sich den Bauch aufgeschnitten hatte. Und mit den Sinnen seiner Bestie erkannte Gabriel nun auch den Schatten des Therapeuten. Eine Gestalt, die eine Chimäre aus den verzerrten Überresten der Schattenwesen war, die der Wurm gefressen hatte – formlos, grauenerregend und verstörend. Gabriel würgte und presste sich die Hand vor den Mund, um sich vor Schwindel und Schmerz nicht übergeben zu müssen.
» Was ist los mit dir? Kannst du etwa kein Blut sehen?« Dr. Roths erstaunte Stimme drang gedämpft zu ihm durch. Wie durch einen dunklen Schleier sah Gabriel, wie der Therapeut seinen Finger durch die Wunde des Wurms zog und an der blutigen Kuppe leckte. Verzweifelt versuchte er, sein tobendes Biest zu besänftigen. Sie konnten doch nichts tun, beschwor er die Kreatur. Nicht hier und jetzt.
Endlich, als der Doktor den Hunderthändigen von seinem Schoß warf und die Schreie verstummten, kam das Biest schnaufend und hechelnd zur Ruhe. Gabriel aber war noch immer wie gelähmt.
» Was wollen Sie von mir?«, flüsterte er. » Und von Marie?«
Dr. Roth lehnte sich vor und griff nach seiner Teetasse, als sei nichts gewesen. » Ich will Maries Feen. Ist das so schwer zu erraten? Ihre Fähigkeit, sich über den Körper eines Menschen zu reproduzieren und so immer stärker zu werden, fasziniert mich sehr. Dummerweise sind diese kleinen Teufel einfach zu clever, um sich in meiner Praxis aus ihrem Versteck zu wagen.« Er lächelte und trank einen Schluck Tee. » Ich dachte schon, ich würde sie nie erwischen. Aber jetzt scheint es, als würden die Tabletten, die ich Marie verschrieben habe, endlich die gewünschte Wirkung entfalten– nach so vielen Jahren. Der Nebel, den sie in Maries Schatten erzeugen, hätte die Feen schon viel früher in die Enge und in meine Reichweite treiben sollen. Aber stattdessen haben sie doch tatsächlich einen Weg über die Grenze gefunden. Ich muss zugeben, das hätte ich ihnen nicht zugetraut.«
Gabriel starrte ihn fassungslos an. Dann waren die Tabletten des Doktors also die Ursache des Nebels in der Obsidianstadt? Er vergiftete Maries Schatten, um die Feen aus ihren Schlupfwinkeln zu locken? Gabriel konnte es nicht glauben.
» Sie wollen die Feen von Ihrem Wurm fressen lassen? Aber das könnte Marie umbringen!«
Dr. Roth hob die Brauen. » Na, na. Hast du denn kein Vertrauen in sie? Ich habe schon viele junge Menschen gesehen, die den Verlust ihrer Schattenkreatur ohne Probleme überstanden haben. Und möchtest du etwa nicht, dass sie endlich wieder frei ist?« Der Therapeut neigte sich ein Stück vor und musterte Gabriel eindringlich. » Du könntest mir helfen, Gabriel. Und ihr natürlich. Dass sie die Feen endgültig loswird, liegt in deiner Hand, verstehst du? Sie vertraut dir. Achte nur darauf, dass sie täglich die Tabletten und das Beruhigungsmittel nimmt, das ich ihr gegeben habe.«
Gabriel spürte, wie er zu zittern begann. Das Fläschchen, das die Bestie gestern Abend in Maries Tasche erspürt hatte! Er war von seinem Bild so vereinnahmt
Weitere Kostenlose Bücher