Als die schwarzen Feen kamen
ihre rotgoldenen Strahlen durch das Giebelfenster. Gabriels Geist fühlte sich taub an, wie erfroren. Er musste mit dem Mädchen reden, das war alles, was er noch denken konnte. Er musste herausfinden, was das alles zu bedeuten hatte.
Bevor sie zu einer Gefahr wurde.
Viertes Kapitel: Therapie
Die Wintersonne fiel schräg durch die große Fensterfront und ließ den dicken Läufer vor dem Schreibtisch in tiefem Weinrot glänzen. Das gläserne Windspiel am Fenster warf schillernde Flecken auf Wände und Möbel und das helle Parkett schimmerte warm und sauber.
Zögernd blieb Marie im Türrahmen stehen. Aus den dicken Sohlen ihrer Winterstiefel tropfte geschmolzener Schnee und hinterließ eine kleine Lache.
» Stell die Schuhe einfach hier vorn hin.« Ellen, die schwarzhaarige Sprechstundenhilfe, lächelte ihr hilfsbereit zu und deutete auf eine dicke Matte neben dem Empfangstresen. » Der Doktor kommt gleich.«
Marie lächelte dankbar zurück und streifte die Stiefel ab. Dann machte sie einen Schritt über die Schneepfütze hinweg und betrat auf Socken das Besprechungszimmer. Angenehme Wärme durchströmte sie von unten. Offenbar war die Fußbodenheizung eingeschaltet.
Als sie die Tür hinter sich schloss, spürte sie sofort, wie ein Teil ihrer Anspannung von ihr abfiel. Hier auf dem cremefarbenen Sofa hatte sie in den letzten Jahren schon viele angenehme Stunden verbracht. Sie mochte ihren Therapeuten und fühlte sich jedes Mal besser, wenn sie mit ihm gesprochen hatte. Ein bisschen wie ihr Vater war er. Oder zumindest so, wie Marie ihn in Erinnerung hatte.
Nur wenige Minuten später öffnete sich die Tür erneut und Dr. Roth trat ein. Er war ein schlanker Mann Ende Vierzig mit kurz geschnittenem, schon vollständig ergrautem Haar, dessen strahlend blaue Augen freundlich, aber eindringlich über die kühn geschwungene Nase und die schmale Lesebrille hinwegblickten. Zu Anfang ihrer Sitzungen hatte Marie ein wenig Angst vor diesen Augen gehabt. Aber das einnehmende Lächeln des Arztes hatte sie schon bald davon überzeugt, dass ihre Befürchtungen unnötig waren. Dr. Roth war jemand, dem sie vertrauen konnte. Und er nahm sie immer ernst, ganz gleich wie kindisch ihre Probleme auch sein mochten.
» Hallo, Lea Marie.« Der Therapeut durchquerte mit energischen Schritten den Raum und begrüßte das Mädchen mit einem herzlichen Händedruck, bevor er sich ihr gegenüber in einen Sessel setzte. » Schön, dich zu sehen.«
Marie musste unwillkürlich lächeln. Lea Marie. Kaum jemand wusste, dass sie diesen Doppelnamen trug. In der Schule und auch überall sonst war sie für alle nur Marie, selbst für Theresa oder ihre Mutter. Nur für Dr. Roth nicht. Er benutzte den Doppelnamen, seit sie ihm einmal erzählt hatte, dass ihr Vater sie immer so genannt hatte. Karin und er hatten sich bei Maries Geburt nicht auf einen Namen einigen können, und er hatte beim Hölzchenziehen verloren– also war Marie ihr Rufname geworden. Er aber hatte es sich nicht nehmen lassen, sie beharrlich mit beiden Namen zu rufen. Dr. Roth hatte das übernommen, und Marie gefiel es– obwohl sie es sonst niemandem erlaubt hätte.
» Danke, dass ich gleich kommen durfte.«
» Deine Mutter klang recht besorgt am Telefon.« Der Arzt schlug die Beine übereinander und musterte sie aufmerksam. » Sie sagte, du seist gestern Abend wegen irgendetwas sehr traurig gewesen und hättest einen Anfall gehabt?«
Marie biss sich auf die Unterlippe. So, wie Karin es erzählte, hörte sich sogar ihre beschönigende Schwindelei besorgniserregend an. Und vermutlich war sie das auch– schließlich hatte sie schon seit Monaten überhaupt keinen Anfall mehr erlebt. Trotzdem war Marie froh, dass ihre Mutter nicht dabei gewesen war, als es passierte. Sonst wäre sie sicher mehr als nur besorgt gewesen. Trotzdem, hier in der Praxis musste Marie die Wahrheit sagen. Dr. Roth konnte ihr schließlich nicht helfen, wenn sie ihn belog. Sie schüttelte leicht den Kopf.
» Einen ziemlich starken sogar«, gab sie kleinlaut zu. » Ich musste zwei Tabletten nehmen.«
Dr. Roth hob die Augenbrauen und notierte etwas in dem Block, den er auf dem Schoß hielt. » Und die haben sofort geholfen?«
Marie nickte. » Ich bin sogar stehen geblieben.«
Wieder schrieb der Doktor etwas in den Block. Dann sah er Marie wieder an. » Kannst du dir einen Grund vorstellen, warum das passiert ist? Das letzte Mal, dass du von so etwas berichtet hast, ist schon fast ein halbes Jahr
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