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Als die schwarzen Feen kamen

Als die schwarzen Feen kamen

Titel: Als die schwarzen Feen kamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Beer
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schüttelte sie den Kopf. » Nicht besonders gut.«
    Dr. Roth seufzte leise. Für einen Moment schienen seine blauen Augen nach innen zu blicken, als müsste er sich selbst konzentrieren, um sich auf die Situation zu besinnen. » Deine Mutter war kurz in die Stadt gegangen, um einige Besorgungen zu machen, während du bei mir warst. Du aber dachtest, sie hätte dich zurückgelassen und würde nun nicht mehr wiederkommen. Und daraufhin hast du einen Anfall erlitten. Geh weg!, hast du immer wieder geschrien, Geh weg! Aber du meintest nicht mich damit, wie ich zuerst dachte. Sondern die schwarze Fee, die aus dem bösen Gedanken geschlüpft war und dich in die Brust biss. Das hast du mir später erzählt. Erinnerst du dich?«
    Die Worte trafen Marie wie ein Blitz. Aus großen Augen sah sie ihren Therapeuten an. Ihr Herz schlug plötzlich wie rasend. Nein, sie erinnerte sich nicht an diese Situation. Aber sie fühlte sich schrecklich vertraut an. Wie aus weiter Ferne glaubte sie eine Stimme in ihrem Kopf zu hören: Aus jedem bösen oder traurigen Gedanken schlüpft eine schwarze Fee, die deine glücklichen Erinnerungen frisst. Und im nächsten Moment stand ihr mit erschreckender Klarheit das Bild aus ihrem Traum wieder vor Augen. Die Wolke aus geflügelten Wesen, die die Sonne verdunkelte. Eine Gänsehaut kroch über Maries Nacken.
    » Ja. Ich habe von ihnen geträumt«, murmelte sie. » Letzte Nacht.«
    Dr. Roth hob die Brauen, als sei er überrascht von dieser plötzlichen Eröffnung. Dann aber nickte er ernst. » Als Kind hast du oft von ihnen gesprochen.«
    Marie schluckte. Sie verstand nicht ganz, worauf der Doktor hinauswollte, aber sie fühlte sich bei dem Thema zunehmend unwohl. Eine verschwommene Erinnerung regte sich in ihr, an Nächte in der Deckenhöhle mit Theresa, wie sie sich gegenseitig lustige Geschichten erzählten, um die bösen Feen zu erschrecken– und an ihren Vater, der sie kitzelte, damit ihr Lachen die garstigen Geisterwesen verscheuchte. Wenn sie so darüber nachdachte, schien es Marie ganz unmöglich, dass sie sie hatte vergessen können. Sie schauderte.
    » Solche Kindheitsängste verschwinden meistens mit dem Älterwerden«, sagte Dr. Roth, als hätte er ihre Gedanken gelesen. » Das ist völlig normal. Und natürlich will ich nicht von dir verlangen, dass du in deinem Alter nun wieder an Feen glaubst. Aber ich denke, wir sollten diese Zeichen ernst nehmen. Dass diese Symbole jetzt in deiner unterbewussten Problembewältigung wieder auftauchen, hat vermutlich einen tieferen Grund. Und den sollten wir erforschen, Marie. Doch dazu braucht es einiges an Mut. Glaubst du, dass du den aufbringen kannst?«
    Marie biss sich auf die Unterlippe. Das Wesen der Feen erforschen? Sie konnte sich kaum vorstellen, was das bedeutete. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nicht die Spur einer Ahnung, was auf sie zukäme, wenn sie sich darauf einließ– oder ob sie mutig genug dafür war.
    Aber sie wusste etwas anderes: Dass sie endlich, endlich ein normales Leben führen wollte. Ohne die ständige Angst, plötzlich zusammenzubrechen. Und dafür war sie bereit, alles zu versuchen.
    » Ja«, flüsterte sie.
    Dr. Roth lächelte. » Das freut mich. Und ich weiß, dass du sehr tapfer bist. Gemeinsam werden wir die bösen Feen schon vertreiben.« Er zwinkerte Marie zu. Dann stand er auf und reichte ihr die Hand. » Ruf mich an, wenn du dich bereit fühlst. Und denk daran: Für dich habe ich immer einen Termin frei.«

Fünftes Kapitel: Allein
    Am Donnerstag in der großen Pause saß Marie auf einem Klodeckel in der Mädchentoilette im ersten Stock und konnte sich nicht dazu durchringen, wieder aufzustehen.
    I hate school, hatte irgendjemand mit schwarzem Edding an die Wand der Kabine geschmiert. Marie hatte diesen Spruch schon oft gelesen– er stand auf der rechten Seite direkt in Augenhöhe und war unmöglich zu übersehen. Aber heute hatte sie der unbekannten Verfasserin zum ersten Mal ernsthaft zustimmen müssen: Sie fand es schrecklich, hier zu sein. Allerdings war daran nicht der Unterricht schuld.
    Viel länger als nötig blieb sie in der kleinen, muffigen Kabine. Theresa und Jenny waren schon längst nach unten gegangen. Aber anders als sonst hatte Marie es nicht eilig, ihnen zu folgen. Trotz aller Anstrengungen, Theresa einmal für ein paar Minuten allein zu erwischen, waren ihre Bemühungen, Zeit für eine Aussprache zu finden, bislang erfolglos geblieben. Seit gestern gab es für ihre

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