Als die Welt zum Stillstand kam
durch die Tore furchtbarere Folgen haben könnten als je zuvor in der Geschichte der Menschheit.
In den ersten Tagen sind schreckliche Dinge geschehen, die niemand mehr ungeschehen machen kann: Die Terror-Gruppe »Zhènggui« hat mithilfe der Tore sämtliche Zellen zeitgleich in Washington zusammengezogen und es in einer wahnwitzigen Selbstmordaktion geschafft, einen großen Teil der amerikanischen Regierung auszulöschen. Aufgebrachte Mitarbeiter großer Unternehmen haben sich überall auf der Welt zu riesigen Mobs zusammengefunden und demonstriert. In Berlin bei der Deutschen Post und in São Paulo bei VW-Chrysler sind die Riesendemos außer Kontrolle geraten. In São Paulo haben sie insgesamt zwanzig Manager von VW-Chrysler gelyncht und in Berlin sind etwa fünfhundert Demonstranten zu Tode getrampelt worden. Überall hat es mehr Morde gegeben als je zuvor, weil die Täter sich durch die Tore sicher sein konnten, ihrer Strafe zu entkommen.
Von den unzähligen persönlichen Dramen bekommen wir glücklicherweise nur manchmal etwas mit, denn die belasten Felix am meisten: unterhaltspflichtige Väter, die sich ihren Verpflichtungen durch Flucht entziehen; Jugendliche, die ausreißen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden; Menschen, die in fremde Länder beamen, dort aus Unkenntnis Straftaten begehen und in Schnellverfahren verurteilt werden.
Natürlich lastet all das auch auf meinem Gewissen. Selbst wenn vieles davon jetzt nicht mehr geschehen wird. Die Lösung war wirklich lächerlich einfach! Ich mache mir genau wie Felix Vorwürfe, dass wir nicht früher daran gedacht haben. Auch wenn es verständlich ist, dass uns das als altmodischen Verfechtern des Datenschutzes nicht rechtzeitig eingefallen ist: Man braucht das DNA-Profil jedes Tor-Benutzers einfach nur mit Zeit und Ort des Beamens zentral und dauerhaft zu speichern. Das Profil wird ja im DNA-Analyser, der Teil des Scramblers ist, für das Beamen sowieso erstellt. Inzwischen ist jedes Tor entsprechend nachgerüstet worden. Verbrechen sind dadurch natürlich nicht ausgeschlossen, aber jeder Weg jedes Menschen durch jedes Tor ist nun jederzeit für die Strafverfolgungsbehörden nachvollziehbar. Die sich im Übrigen als Erste global zusammengeschlossen haben – auf Druck der UNO, die ein funktionierendes globales Strafverfolgungssystem zur Voraussetzung für den weiteren Ausbau des Tornetzes gemacht hat.
Mir war immer klar, dass wir ein Instrument geschaffen haben, das zu mächtig ist, als dass wir die Folgen seiner weltweiten Einführung auch nur ansatzweise absehen könnten. Mich werden die entsetzlichen Bilder der ersten Tage mit den Toren mein Leben lang nicht loslassen – aber ich kann und werde damit leben. Doch mir wird immer klarer, dass Felix das nicht kann. Er ist hochgradig depressiv, schläft nicht mehr, sieht sich nur noch die Bilder der Massaker und die Hass-E-Mails an, die wir bekommen haben. Nicht einmal Celie dringt mehr zu ihm durch – er ignoriert sie völlig, genau wie mich.
Ich bin dabei, ihn zu verlieren, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.
Irland, Mobilen-Kommune
Geld war längst nichts mehr wert. Die Flüchtlinge, die nichts mehr zum Tauschen hatten, schlugen sich vor allem mit Jobs beim Bau von Wasser- und Stromleitungen, Algentanks, in denen Nahrung erzeugt wurde, und Wasseraufbereitungsanlagen durch. Obwohl sie dafür von der Kommune eine Grundversorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Strom bekamen, hatte es schon einige Diebstähle und Überfälle gegeben. Die Polizei war mittlerweile allgegenwärtig und bestimmte das Straßenbild ebenso wie die neuen Verordnungen, die fast stündlich vom Rat direkt auf die Screens der Häuserfassaden übertragen wurden. Seit gestern zum Beispiel brauchten alle Neuankömmlinge einen Passierschein, um in die Kommune zu kommen, und nach Sonnenuntergang wurden die Stadttore geschlossen.
Celie gefiel das alles ebenso wenig wie irgendjemandem sonst. Aber sie hatte sich von Anfang an nichts vorgemacht: Die Kommune war nie unabhängig vom Tornetz gewesen, nicht einmal annähernd. Auch wenn die Mobilen das gern so dargestellt hatten. Man hatte alles Mögliche übers Netz besorgt: Medikamente, Informationen, Luxusgüter … Allerdings zahlte es sich nun aus, dass man hier 2024 nicht Hals über Kopf alles aufgegeben hatte, was die Tore überflüssig zu machen schienen. Im Gegenteil: Viele Wissenschaftler, deren Spezialgebiete in der neuen Zeit plötzlich nicht mehr gefragt waren, hatten
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