Als die Welt zum Stillstand kam
wollte etwas von ihr. Er war acht Jahre älter als sie und stand als Bürgermeister mehr in der Öffentlichkeit als jeder andere hier. Drei gute Gründe, sich von ihm fernzuhalten.
Andererseits fühlte Celie sich durch die Aufmerksamkeit, die Jason ihr schenkte, auch ein wenig geschmeichelt …
Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Nein. Sie musste ihn meiden wie die Pest. Sie war die Tochter des Feindes. Jetzt noch mehr als vor dem Zusammenbruch. Wenn Jason das jemals herausfand, war sie geliefert. Und wenn sie zu viel Zeit mit ihm verbrachte, würde sein dunkler Schatten, Conor, mit Sicherheit Nachforschungen über sie anstellen.
Celie hockte sich auf dem Dach des Krankenhauses hin und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Von hier aus war nicht zu übersehen, was sich schon alles verändert hatte. Vor den Toren der Stadt unterbrachen unzählige Zelte das grüne Flickwerk der Felder und Wiesen. Immer mehr Menschen waren dort draußen mit Bauen und Ernten beschäftigt. Notunterkünfte wurden errichtet, mobile Küchen und Wasserleitungen wurden gebaut. Und das alles wurde vor allem von Menschen geleistet – Celie konnte nicht mehr als vier oder fünf Roachys sehen, die die schwersten Arbeiten erledigten.
In der TV-Ansprache gestern, die auf allen Fassaden-Screens gelaufen war, hatte Jason gesagt, dass das einen guten Grund hatte: Man wolle den Flüchtlingen Aufgaben geben, die für die Kommune sinnvoll und nützlich waren. Damit sie ein produktiver, zufriedener Bestandteil der Mobilen-Gesellschaft werden konnten.
Celie hatte Jasons Ansprache mit Olle zusammen an einem Stehtisch vor dem »Rock in« verfolgt, wo »Staying Alive« spielten, die sich in den letzten Wochen zur beliebtesten Rock-Band der Kommune entwickelt hatten. Olle hatte schon einiges getrunken, sonst wäre er sicher leiser gewesen.
»Sinnvolle Aufgaben?«, hatte er gerufen. »Bullshit! Billige Arbeiter, darum geht’s! Hört auf meine Worte, Leute: Wenn uns erst mal der Strom ausgeht, dann funktioniert kein Servbot mehr. Was aber egal ist, weil die Neuen als moderne Sklaven einspringen werden. Sie werden gar keine Wahl haben, weil sie dann alles eingetauscht haben werden, was sie besitzen. Glaubt mir, Leute, genau das wird passieren!«
Einige hatten genickt, aber die meisten hatten unbehaglich zwischen Olle und mehreren Polizisten hin- und hergesehen, die weiter unten auf der Straße patrouillierten. Celies Blick war unwillkürlich nach oben gewandert, in den blauen Nachthimmel voller Sterne. Sie hatte nach Kameradrohnen gesucht, zum Glück aber keine gesehen. Und plötzlich war sie zutiefst erschrocken. War es wirklich schon so weit, dass man aufpassen musste, was man sagte? Dass man sich ständig beobachtet fühlen musste? Oder bildete sie sich das nur ein, weil sie sich selbst um jeden Preis davor schützen musste, entlarvt zu werden?
Tief durch die Nase einatmen, den Atem in die Brust lenken, langsam durch den Mund wieder ausatmen.
Natürlich gab es jetzt mehr Polizisten und auch verschiedene Sonderkommandos, das war doch völlig normal. Schließlich waren die Straßen der ehemals so elitären Stadt voller Wissenschaftler, Ingenieure und Künstler inzwischen mit heimatlosen Menschen überfüllt, viele von ihnen am Rande der Verzweiflung.
Celie hätte sich beinahe selbst geglaubt, dass es keinen Grund zur Sorge gab, als Olle ihr seinen Bieratem ins Gesicht lachte. »Siehst du das, Celie? Die Leute haben schon Angst, was Falsches zu sagen oder, noch schlimmer, neben jemandem zu stehen, der was Falsches sagt. Conor und seine Leute sind überall und die verhaften dich schneller, als du ›Notstandsverordnung‹ sagen kannst. Glaub mir: Mit uns geht’s rasant bergab.«
Celie hatte Olle kurz darauf nach Hause gebracht, wo er aufs Sofa gefallen und sofort schnarchend eingeschlafen war. Dann war sie durch die belebten Straßen, in denen nachts nur noch jede zweite Fassade leuchtete, weil sie Strom sparen mussten, zu ihrer eigenen Wohnung gegangen.
Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und sich zum ersten Mal, seit sie hier war, nach dem Orangenbaum zu Hause gesehnt. Einfach dasitzen, ganz allein, und »Irish Blessing« spielen, ein Lied, das sie immer tröstete … Sie summte die ersten Zeilen vor sich hin:
May the road rise to meet you,
May the wind be always at your back.
May the sun shine warm upon your face …
Aber heute half es nicht. Immer wieder dachte sie daran, wie es wohl draußen im Rest der Welt aussah. Fragte sich, ob
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