Als gaebe es kein Gestern
ist Livia Scholl. Ich muss Arvin für eine oder anderthalb Stunden entführen. Meinen Sie, dass das möglich ist?“
Die Überraschung stand Frau Baumann deutlich ins Gesicht geschrieben. „Frau Scholl … oh … aber ja … Ich meine … einen Moment.“ Wieder drückte sie eine Taste. Dann lächelte sie verlegen. „Besetzt … Na ja, kein Wunder …“ Sie sprang auf. „Wollen Sie sich nicht setzen?“ Mit diesen Worten deutete sie auf eine kleine Sitzgruppe direkt an einem der Fenster. „Ich … ich könnte Ihnen einen Kaffee kochen …“
„Nicht nötig“, blockte Livia ab. Sie hätte ohnehin keinen einzigen Schluck heruntergekriegt. „Wichtig ist nur“ – sie sah auf ihre Uhr – „dass Sie alle weiteren Gespräche von ihm fernhalten. Wir haben nämlich selbst einen Termin.“
„Termin, ach so“, stammelte Frau Baumann, ging zurück zu ihrem Schreibtisch und blätterte hektisch in einem Kalender herum. „Hab ich da was übersehen?“
„Arvin weiß nichts davon“, konnte Livia sie beruhigen. „Es ist … sozusagen eine Überraschung.“
Eine Überraschung war auch, dass sich in diesem Moment eine der angrenzenden Türen öffnete und Enno mit einer Kaffeetasse in der Hand dahinter zum Vorschein kam. Er trug einen perfekt sitzenden schwarzen Anzug mit einem weißen Hemd und einer grau gemusterten Krawatte. „Der Kaffee verdunstet mal wieder, Frau Baumann, Sie wer…“ In dem Moment, in dem sein Blick auf Livia fiel, verstummte er und blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen. „Was …“ Aber auch dieser Satz wurde nicht vollendet. Stattdessen blickte Enno mit deutlich sichtbarer Verunsicherung zwischen Frau Baumann und Livia hin und her.
„Das ist Arvins Frau“, half ihm Frau Baumann auf die Sprünge.
Enno räusperte sich und schien den Schreck allmählich zu verdauen. Er ging jetzt auf Livia zu und streckte ihr die Hand entgegen. „Enno Krantz“, sagte er förmlich, bombardierte Livia aber gleichzeitig mit fragenden Blicken.
„Livia Scholl“, entgegnete Livia und fragte sich, ob es wirklich nötig war, eine erstmalige Begegnung vorzuspielen. Ein wenig befangen schüttelte sie Ennos Hand. Sie war warm und schien Livia überhaupt nicht wieder loslassen zu wollen. „Ich möchte zu Arvin“, versuchte sie die unausgesprochene Frage zu beantworten.
„Aha.“
Livia hatte das Gefühl, dass es enttäuscht klang, und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. So entstand eine etwas unangenehme Stille, die erst Frau Baumann durchbrach, als sie mit einer Kaffeekanne in der Hand auf Enno zukam. „Sie wollten bestimmt Kaffee.“
„Äh, ja, genau“, stammelte Enno und hielt der Dame die Tasse hin. Gleich darauf schlug seine Tasse ein paarmal leise gegen die gläserne Kanne, was Livia darauf zurückführte, dass Ennos Hand ein wenig zitterte. Glücklicherweise wurde nichts verschüttet. Als Frau Baumann mit der Kanne zur Maschine zurückkehrte, machte Enno ein paar Schritte rückwärts. „Ja, dann …“ Er warf Livia einen kurzen, aber so sehnsüchtigen Blick zu, dass diese weiche Knie bekam und sich an den Grund ihres Besuches erinnern musste. Sie war wegen Arvin hier, nicht wegen Enno! „… dann geh ich wohl mal wieder an die Arbeit.“ Während Enno diese Worte aussprach, ging er weiter rückwärts, machte aber überhaupt nicht den Eindruck, als wollte er in sein Büro zurück. Eher schien es, als fordere er Livia heraus, ihn daran zu hindern. Aber nachdem sie das nicht tat, erreichte er nach einer Weile doch sein Büro und musste wohl oder übel darin verschwinden.
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, atmete Livia erleichtert auf. Enno ist nicht der Richtige für dich , ermahnte sie sich.
Derweil machte sich Frau Baumann erneut an der Telefonanlage zu schaffen. „Sie haben Besuch, Herr Scholl“, sagte sie als Nächstes. „Ihre Frau ist hier.“ Stille. „Ja, tatsächlich. Sie steht hier neben mir.“
Sekunden später öffnete sich die nächste Tür. Sie lag direkt neben Ennos Tür.
Wie passend! , dachte Livia sarkastisch.
Dieses Mal kam Arvin dahinter zum Vorschein. Er trug eine anthrazitfarbene Anzughose und ein hellblaues Hemd, aber keine Krawatte. Dadurch war er längst nicht so gut gekleidet wie Enno. Allerdings verliehen ihm die aufrechte Haltung, die dunklen Haare und die schwarze Brille einen Hauch von Eleganz. Im Gegensatz zu Enno wirkte Arvin ein wenig gefasster, aber das war ja auch kein Wunder. Schließlich hatte Frau Baumann ihn
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