Als gaebe es kein Gestern
schrie jedoch nicht auf, sondern warf sich auf den Boden und erstickte den Schmerzensschrei, indem sie beide Hände auf den Mund presste und sich hin und her wand. Um nichts in der Welt hätte sie ihm jetzt eine solche Genugtuung verschafft!
Ein paar heftige Atemzüge lang war sie zu gar nichts in der Lage. Dann ließ der Schmerz allmählich nach und wurde von einem erneuten Schwall Wut ersetzt. „Also gut!“, schimpfte sie und griff nach dem letzten Mittel, das ihr jetzt noch einfiel. „Ich gehe ins Wohnzimmer und zerstöre dort alles, was mir in die Hände kommt. Vasen, Fotoalben – einfach alles! Hör gut zu, gleich hörst du es klirren.“ Sie stapfte los, hörte aber schon nach wenigen Sekunden, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde und die Tür mit einem Knarren aufschwang.
Abrupt blieb sie auf der Stelle stehen, drehte sich aber nicht zu ihm um.
„Warum sollte ich etwas dagegen haben?“, fragte er von hinten. „Ich fühle mich auch jetzt schon, als wäre alles, was ich besitze, kaputt.“
„Ich habe ihn nicht geküsst“, beteuerte Livia. „Er hat mich geküsst.“
„Er war nicht zum ersten Mal hier.“ Es war eine Feststellung.
Livia schloss für einen Moment die Augen und erinnerte sich an Karens Worte. Einen solchen Vertrauensbruch würde er kein zweites Mal verkraften. Aber was hätte sie anders machen können? Wenn sie ihm die Wahrheit gesagt hätte, wäre es gar nicht erst zu einer Versöhnung gekommen! „Nein“, gab sie kleinlaut zu. „Er war nicht zum ersten Mal hier. Und es … es kommt noch schlimmer.“ Wenn schon, denn schon. Sie würde ihn kein weiteres Mal belügen. „Enno war derjenige, mit dem ich dich damals betrogen habe.“
Lange, unendlich lange Zeit sagte Arvin überhaupt nichts. Livia hörte ihn atmen. Es war ein schweres, ungleichmäßiges Geräusch. „Und nach deinem Unfall …“ Es war eine Zerbrochenheit in seiner Stimme, die Livia kalte Schauer über den Rücken jagte.
„Er war ein paarmal hier. In … in der Zeit, in der wir – du und ich – uns nicht verstanden haben, war er mir ein Freund. Aber mehr war da nicht. Wir haben nicht miteinander geschlafen oder so was.“
„Nach diesem Kuss“, presste Arvin hervor, „soll ich dir das glauben?“ Seine Stimme wurde lauter. „Ich soll dir das glauben, obwohl ich gesehen habe, gesehen , wie du in seinen Armen dahingeschmolzen bist?“
Livia wirbelte zu ihm herum. „Ich war nur überrascht, Arvin. Er hat mich so plötzlich gepackt … Du bist im falschesten Moment herein–“
„Nein!“, unterbrach er sie wütend. „Ich bin im richtigsten Moment hereingeplatzt. Im aller-aller-richtigsten! Einen besseren konnte es nicht geben.“
Livia stieß die Luft, mit der sie ihren Satz hatte beenden wollen, frustriert wieder aus. „Und jetzt?“, flüsterte sie schließlich.
Arvins Blick wurde kalt. „Jetzt spulen wir ein paar Wochen zurück.“
„Und wohin?“
„Zum Notartermin. Du erinnerst dich sicher an das Gespräch, das wir geführt haben, als der Termin erledigt war.“
Livia schluckte schwer und piepste: „Du wirfst mich raus?“
Arvin senkte den Blick. „Nein. Ich bitte dich nur zu gehen. Ich bitte dich zu gehen, damit ich dich nicht mehr sehen muss. Damit … noch ein Stück von mir übrig bleibt.“
Das wird es nicht , dachte Livia verzweifelt. Heute Morgen hast du mir dein Herz gegeben, das habe ich gemerkt. Wenn du mich jetzt wegschickst, wird es mit mir reisen!
Aber sie wusste, dass es keinen Zweck mehr hatte, mit ihm zu diskutieren. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, seiner Bitte Folge zu leisten. Wenn sie erst fort war, würde ihn vielleicht die Sehnsucht wieder in ihre Arme treiben … Und so setzte sie sich langsam in Bewegung, schlich in ihr Zimmer, holte ihre Reisetasche aus dem Schrank und begann, sie wahllos mit Kleidungsstücken und Gegenständen vollzustopfen. Als nichts mehr hineinging, zog sie so lange am Reißverschluss, bis er sich endlich schloss, und zerrte die Tasche auf den Flur hinaus.
Arvin ließ sich derweil nicht blicken. Er ließ sie einfach so ziehen, ohne ein Wort des Abschieds, ohne Geld, ohne alles.
❧
Eine gute Stunde später stand Livia mit Sack und Pack vor Karens Haustür und klingelte. Sie wusste ja, dass Karen keine Lust hatte sie aufzunehmen, hoffte aber, zumindest eine Nacht dort bleiben zu können. Gunda und Manfred waren keine Alternative und andere Freunde hatte sie nun einmal nicht.
Seltsamerweise öffnete niemand die Tür –
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