Als gaebe es kein Gestern
weder nach dem ersten noch nach dem zweiten, noch nach dem dritten Klingeln. Also begann Livia zu klopfen.
„Karen!“, rief sie mit unterdrückter Stimme und klopfte, was das Zeug hielt. „Vanessa?“ Sie sah auf ihre Uhr. Da es bereits nach acht war, sprach einiges dafür, dass Vanessa bereits im Bett lag. Aber was war mit Karen?
„Karen!“, rief sie erneut. „Jetzt mach doch auf! Karen!“
Sie fuhr fort, gegen die Tür zu hämmern, erreichte aber nur, dass sich die gegenüberliegende Wohnungstür öffnete. Eine ältere Dame streckte den Kopf in den Flur hinaus. „Eigentlich müssten sie da sein.“
„Danke“, seufzte Livia und klopfte weiter.
Und tatsächlich … nach geschlagenen zehn Minuten ging tatsächlich die Tür auf und Karen stand vor ihr. Sie trug einen pastellgrünen Hausanzug aus weichem Nickistoff und strahlte, was das Zeug hielt. „Das ist aber eine nette Überraschung!“
Livia zog die Stirn in Falten und betrachtete Karen erst einmal von oben bis unten. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Karen war frisch geschminkt, das sah sie deutlich. Diese Tatsache war schon an sich eher ungewöhnlich, vor allem in Kombination mit der bequemen Kleidung. Am auffälligsten aber war, dass ihre Augen trotz der Schminke stark gerötet waren. Es sah fast so aus, als hätte sie bis eben noch geheult. Dabei war es doch an ihr, Livia, zu heulen … „Stimmt was nicht?“, fragte sie langsam.
Karens Lächeln erstarb. Von einem Moment auf den nächsten wirkte sie zehn Jahre älter. „Das sollte ich dich fragen“, erwiderte sie und deutete auf die Reisetasche.
„Hast du Lust auf eine Heulparty?“, erkundigte sich Livia.
„Bin schon mittendrin“, seufzte Karen und gab die Tür frei.
Livia trat ein, stellte ihre Reisetasche im Flur ab und folgte ihrer Freundin und Schwägerin ins Wohnzimmer. Hier sah es ziemlich schlimm aus. Der Boden war mit benutzten Taschentüchern gepflastert. „Keine Sorge“, sagte Karen in einem Anfall schwarzen Humors. „Ich hab noch welche.“ Mit diesen Worten ging sie an den Wohnzimmerschrank, kramte eine Familienpackung Taschentücher daraus hervor und legte sie auf den Wohnzimmertisch. „Willst du auch was zu trinken?“ Als Livia zögerte, fügte sie hinzu: „Heulen macht einen trockenen Mund.“
„Wasser“, sagte Livia und ließ sich mit einem abgrundtiefen Seufzer aufs Sofa fallen, während Karen in der Küche verschwand.
Als Karen zurückkehrte, hatte Livia bereits die Schuhe ausgezogen, die Beine auf dem Sofa angewinkelt und ein Kissen zwischen Bauch und Oberschenkel geklemmt.
„Wie ich sehe, hast du es dir schon bequem gemacht“, lächelte Karen. Sie stellte eine Wasserflasche und zwei Gläser mit einem klirrenden Geräusch auf dem Couchtisch ab. „Wo drückt denn der Schuh?“
Aber Livia schüttelte entschieden den Kopf. „Dieses Mal nicht“, sagte sie ernst. „Dieses Mal erzählst du zuerst.“
Karen musste schlucken, beschäftigte sich eine erstaunlich lange Zeit damit, Wasser in die Gläser zu füllen und die Flasche zuzuschrauben, und nahm dann neben Livia auf dem Sofa Platz. Dabei suchte sie sich allerdings keine angenehme Sitzposition, sondern blieb ganz vorne auf der Sofakante sitzen, so als würde sie jede Minute wieder aufspringen wollen.
Livia wartete eine Weile, als jedoch nichts geschah, sagte sie: „So schlimm wird es nun auch wieder nicht sein.“
Karen wandte in Zeitlupentempo den Kopf nach rechts und warf Livia einen Blick zu, der dieser das Blut gefrieren ließ.
„Doch so schlimm?“, flüsterte Livia.
Karen stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Eigentlich nicht. Es ist nur so schwer … Vanessa loszulassen.“
Livia runzelte die Stirn. Sie begriff überhaupt nichts. „Vanessa loszulassen?“
„Ich hab sie von Gott bekommen. Jetzt muss ich sie an Gott zurückgeben. Ich …“ Sie hob mit einer verzweifelten Geste die Arme. „Eigentlich weiß ich, dass er sie gut versorgen wird. Und trotzdem …“
„Das klingt“, begann Livia und spürte, wie eine Gänsehaut über ihren gesamten Körper lief. „Das klingt, als müsste sie sterben oder so was.“
Als Karen den Kopf schüttelte, atmete Livia auf. „Sie nicht. Ich“, sagte Karen langsam.
Livia gefror zu einer Eisskulptur und sah Karen mit weit aufgerissenen Augen an.
„Ich weiß es schon so lange“, flüsterte Karen, ohne Livia anzusehen, „dass ich mich an den Gedanken gewöhnt habe. Immerhin … gehe ich nach Hause, in den Himmel, wo Gott auf mich
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