Als gaebe es kein Gestern
ein bisschen darüber, dass Spike immer noch bellte.
„Welche Suppe koche ich morgen, oder was?“
Livia ließ ihn los, als hätte sie sich die Finger an ihm verbrannt. „Danke für die Hilfe“, sagte sie kalt. „Ich kann jetzt nämlich sehr viel besser formulieren, was uns trennt. Das eigentliche Problem ist, dass du mich nicht wirklich kennst und dich auch gar nicht für mich interessierst … nicht für mein Herz, nicht für meine Ängste oder meine Wünsche.“ Sie tastete in ihrer rechten Hosentasche nach dem Zettel, den sie mit Karen und Arvin erstellt hatte. Er knisterte beruhigend durch den Stoff hindurch.
„Ich hab eher das Gefühl, dass du deine Wünsche selbst nicht kennst“, erwiderte Enno verächtlich. „Sonst würdest du dich nämlich nicht so einem Weichei wie Arvin an den Hals schmeißen. Wetten, er küsst nicht halb so leidenschaftlich wie ich?“ Mit diesen Worten packte er zu und zog Livia so plötzlich und so kräftig an sich heran, dass sie davon völlig überrascht wurde. Die Hände noch unten in Höhe ihrer Hosentaschen, prallte sie ungebremst gegen Ennos Brustkorb und rang im nächsten Moment erschrocken nach Atem. Aber auch das wurde im Keim erstickt, weil sich Ennos Mund hart auf ihren presste, seine Zunge alles, was sich ihr in den Weg stellte, zur Seite schob und in ihren Mund eindrang. Die Augen weit aufgerissen, sah Livia Sterne vor sich tanzen. Einige Sekunden lang verhinderten Schreck, Ekel und Atemnot jeden klaren Gedanken und damit jeden Widerstand.
Dann ließ Enno auf einmal von ihr ab. Livia taumelte rückwärts, landete in ihrem Sessel und rang mühsam um Luft.
„Was machst du denn hier?“, fragte Enno.
Livia begriff überhaupt nichts, sie war gerade so weit wiederhergestellt, dass sich die lange überfällige Wut zu entwickeln begann.
„Es ist nicht so, wie du denkst“, sagte Enno.
Mit wem redete er da nur? Livia folgte seinem entsetzten Blick, drehte sich um und – vergaß ein weiteres Mal das Atmen.
Arvin stand in der Tür. Er sah aus, als wäre er dem Tod begegnet, seine Gesichtshaut war aschfahl und sein Blick …
Livia wusste sofort, dass sie ihn ihr Leben lang nicht wieder vergessen würde. Dieser Blick verlieh dem Wort „Enttäuschung“ eine neue Dimension.
Sie sprang auf und wandte sich ihm zu. „Arvin“, presste sie hervor, aber als er sie ansah, wusste sie schon, dass alles, was heute Morgen entstanden war, in Scherben lag. „Ich hab nicht –“
Er erstickte ihren Satz mit einem einzigen Blick, der so schmerzerfüllt war, dass er ein Schaudern durch Livias Körper sandte. Dann drehte er sich um und ging.
Eine Weile war alles still. Dann sagte Enno kleinlaut: „Das wollte ich nicht.“
Livia umrundete wie in Zeitlupe den Sessel und nahm Platz. Seltsamerweise fühlte sie überhaupt nichts – weder Wut noch Verzweiflung. Ob sich diese Gefühle gegenseitig aufhoben? Sie starrte ins Leere.
„Ich werd’s ihm erklären“, sagte Enno.
Aber Livia rührte sich nicht. Sie war nicht einmal in der Lage, Ärger zu produzieren. Dabei hätte sie allen Grund gehabt, sowohl auf Enno als auch auf Arvin – gerade auch auf Arvin – wütend zu sein. Wieso vertraute er der Situation mehr als ihr?
Enno trat unentschlossen von einem Bein aufs andere. „Soll ich jetzt gehen?“, fragte er.
„Weißt du, was das Schlimmste ist?“, flüsterte Livia. Sie starrte in den Raum hinein, ohne etwas zu fokussieren.
„Nein?“
„Das Schlimmste ist“, fuhr sie fort, „dass er hundertmal wundervoller küsst als du.“
❧
Ein paar Stunden später stand Livia vor Arvins Schlafzimmertür und klopfte. „Können wir nicht wenigstens miteinander reden?“ Ihr Tonfall war energisch, wenn nicht gar gebieterisch. Die Phase, in der sie gebeten und gebettelt hatte, war längst vorbei.
Stille.
„Du bist ein Feigling!“, fauchte Livia. „Verkriechst dich in deinem Zimmer wie ein kleiner Junge und gehst jeder Auseinandersetzung aus dem Weg. Komm wenigstens raus und beschimpf mich!“
Nichts.
Oh, was würde sie darum geben, wenn er zumindest mal reagieren würde!
Sie klopfte – hämmerte – erneut. Ihre Fingerknöchel waren inzwischen feuerrot. „Arvin Scholl! Du kommst jetzt sofort raus und redest mit mir!“
Wieder nichts.
Sie trat gegen die Tür. „Wenn du nicht sofort rauskommst, schlag ich die Tür ein!“
Keine Reaktion.
In ihrer Wut trat sie so heftig und unkontrolliert gegen die Tür, dass ein fieser Schmerz in ihren rechten Zeh fuhr. Sie
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