Als gaebe es kein Gestern
von der sie noch kein einziges Mal abgebissen hatte. „Alles in Ordnung, mein Schatz“, lächelte Karen und meinte damit Vanessa, in deren Gesicht sich gerade tiefe Besorgnis widergespiegelt hatte.
Arvin warf Livia einen warnenden Blick zu.
Aber Livia hatte schon selbst bemerkt, dass sie sich mehr vorsehen musste. Vanessa schien allmählich zu begreifen, wie es um ihre Mutter stand. In letzter Zeit erkundigte sie sich immer häufiger ohne besonderen Anlass nach dem Gesundheitszustand ihrer Mutter …
Das Telefon klingelte und Arvin erhob sich. Aber als er den Hörer abnahm und sich mit „Scholl“ meldete, schien niemand am Apparat zu sein. „Hallo?“, sagte er ungehalten. „Hallo!“ Er schaltete das Telefon wieder aus und schüttelte verärgert den Kopf.
„Also wenn ich es mir recht überlege“, begann Karen, „hab ich in den letzten Tagen andauernd irgendwelche Anrufe gehabt, bei denen sich niemand gemeldet hat …“
„Wirklich?“ Arvin setzte sich wieder. „Bei mir war es das erste Mal. Und bei dir?“ Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen sich Arvin direkt an Livia wandte.
„Ich kann mich an keine derartigen Anrufe erinnern“, antwortete sie und schauderte. Ob Arvin wohl den Mann aus dem Krankenhaus in der Leitung gehabt hatte? Bisher hatte er nur ein einziges Mal bei ihr angerufen. Und das war schon erstaunlich lange her. Ob er sie endlich in Ruhe ließ? Die Hoffnung, dass die Polizei ihn ausfindig machen könnte, hatte sie inzwischen aufgegeben. Sie hatte Herrn Walther zwar die Notiz übergeben, die er in ihrem Briefkasten hinterlassen hatte. Doch hatte man darauf weder Fingerabdrücke noch sonstige Hinweise gefunden. Herr Walther tappte komplett im Dunkeln.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als ein Stuhl lautstark über den Boden scharrte. Karen war plötzlich aufgestanden. „Bitte entschuldigt mich einen Moment“, sagte sie und schwankte plötzlich. Eilig griff sie nach der Tischplatte, klammerte sich mit beiden Händen daran fest und schien nach einigen Sekunden ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen.
Livia unterdrückte den Impuls, ihr zu Hilfe zu eilen.
Karen ließ die Tischplatte wieder los und steuerte auf die Küchentür zu. „Ich … ich müsste mal kurz …“
Dann ging alles sehr schnell. Arvin und Livia sprangen fast gleichzeitig auf, Livias Stuhl prallte gegen die Wand, der von Arvin polterte lautstark zu Boden, Vanessa kreischte los. Und Karen fiel bewusstlos in Arvins Arme.
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Als Livia Karen am nächsten Morgen im Krankenhaus besuchte, bot diese ein Bild des Jammers. Schläuche führten in ihre Nase, ein Tropf sorgte für ausreichende Flüssigkeitszufuhr und überall standen technische Geräte herum, die ihre Lebensfunktionen überwachten.
Zuerst traute sich Livia gar nicht richtig ans Bett heran. Sie fühlte sich ohnehin nicht wohl in ihrer Haut. Obwohl sie einen grünen Kittel trug und ihre Hände mehrfach mit Desinfektionsmittel gereinigt worden waren, hatte sie Angst, Karen mit irgendetwas anzustecken.
Aber Karen hatte aus irgendeinem unerfindlichen Grund darauf bestanden, mit ihr – Livia – zu sprechen.
Einen Moment lang zog sie ernsthaft in Erwägung, ob es nicht vielleicht doch besser wäre, ein anderes Mal wiederzukommen.
Aber Karen war wach und wandte den Kopf. Es gelang ihr sogar, zu lächeln und den Arm ein paar Zentimeter zum Gruß zu heben. Typisch Karen , dachte Livia, liebe, tapfere Karen.
Sie trat ein paar Schritte näher. „Wie geht es dir?“, flüsterte sie.
Karen bedeutete ihr mit den Fingern, noch näher zu kommen.
Und Livia kam. Sie trat direkt ans Bett heran. Durch den Stoff ihrer Jeans hindurch spürte sie das kalte Metall des Bettgestells, doch wagte sie noch immer nicht, Karen zu berühren.
Aber Karen streckte ihr erneut die Hand entgegen.
Die Geste raubte Livia das letzte bisschen Selbstbeherrschung. In einer einzigen fließenden Bewegung kniete sie sich neben das Bett, ergriff die ihr entgegengestreckte Hand und begann sie zu küssen. Tränen und Speichel benetzten Karens Hand, als Livia ihre ganze Verzweiflung auf ihre beste Freundin ergoss.
Karen ließ es einfach geschehen. Geraume Zeit verging in heftiger Trauer.
Erst als ihre Schluchzer ein wenig abebbten, krächzte Livia: „Es tut mir so leid. Du solltest diejenige sein, die weint. Nicht ich. Ich sollte stark sein!“
„Du warst so lange stark“, flüsterte Karen. „Und du warst mir eine solche Hilfe …“
„Sag das nicht!“, brach es aus Livia
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