Als gaebe es kein Gestern
Sie lächelte sanft. „Wusstest du, dass Gott uns auch dann vergibt, wenn wir richtigen Mist bauen? Dass er gerade dort auf uns wartet, wo wir am meisten versagt haben? Aber das kann ich Arvin nicht erklären. Er ist anders, er hat nicht gelernt, sich in Gottes Hände fallen zu lassen.“
„Und warum erzählst du mir die ganze Geschichte?“ Livias Stimme klang zerbrechlich. Das hier war ein bisschen viel für sie.
Karen räusperte sich. „Ich hab Angst, dass … dass Enno vielleicht Ansprüche auf Vanessa anmeldet, wenn ich …“
Livias Blick verfinsterte sich. Sie wollte nicht daran denken, dass Karen sterben könnte! „Dann hängt er also doch an ihr …“, schlussfolgerte sie.
„Nein!“ Karen schüttelte erstaunlich heftig den Kopf. „Das ist nicht der Grund. Wenn er Ansprüche anmeldet, dann nur, um Arvin eins auszuwischen.“
„Aber Arvin und Enno, sie sind doch Freunde!“
„Enno hat keine Freunde“, behauptete Karen. „Und deshalb will ich nicht, dass er sie bekommt. Ich will es auf keinen Fall, hörst du? Ich hab ein entsprechendes Schriftstück aufgesetzt, eine Art Testament. Es ist in meiner Handtasche.“ Sie streckte mühsam die linke Hand aus und deutete in die entsprechende Richtung.
Livia suchte mit den Augen den Raum ab. Und tatsächlich: Unweit des Bettes stand ein Stuhl mit Karens schwarzer Handtasche. Ob es normal war, dass auf einem Zimmer der Intensivstation persönliche Gegenstände herumstanden? Oder ob Karen sie extra hatte holen lassen?
„Holst du sie her?“ Karens Stimme glich wieder einem Flüstern.
Livia tat, wie ihr geheißen, öffnete den Reißverschluss der Tasche und holte einen weißen Umschlag daraus hervor.
„Verwahre ihn gut“, mahnte Karen. „Aber zeig ihn Arvin nicht. Und benutz ihn nur, wenn gar nichts anderes mehr hilft.“
Livia nickte gehorsam. Was blieb ihr schon anderes übrig …
Sie hielt den kühlen, glatten Umschlag fest umklammert und wandte sich zum Gehen, um die Tasche an ihren Platz zurückzubringen.
„Warte!“, hielt Karen sie auf.
Livia drehte sich zu Karen um und hob fragend die Augenbrauen.
„Ich bin noch nicht fertig mit meiner Beichte“, krächzte Karen. „Hinten in der Handtasche ist ein zusätzliches Fach …“
Livia klemmte sich den Umschlag unter den rechten Arm und wandte sich erneut dem Inneren der Handtasche zu. Sie fand das Fach und öffnete einen weiteren Reißverschluss. Dann holte sie eine kleine, durchsichtige Plastiktüte aus dem Fach hervor. In der Plastiktüte, die mit einem Gummiband verschlossen war, befand sich eine gewöhnliche Nagelschere. „Eine Nagelschere“, sagte Livia und machte Anstalten, das Gummiband zu lösen.
„Lass es dran“, hauchte Karen.
Livia hielt in ihrer Bewegung inne.
„Siehst du das Blut?“
Livia runzelte die Stirn, untersuchte die Nagelschere genauer und stellte fest, dass ein dunkelroter Film an den Klingen haftete. Blut? „Ich verstehe nicht …“, wunderte sie sich.
„Bitte sei mir nicht böse …“ Karens Worte verklangen. Sie hatte Mühe, mehr als einen Satz am Stück zu sprechen. „Ich hab sie … hier im Krankenhaus … gefunden … in deinem Zimmer … unter dem Bett … an dem Tag … nach dem Albtraum …“
Livia hörte auf zu atmen. Albtraum … Krankenhaus … Die Worte genügten, um die Erinnerung an jene Nacht wieder aufleben zu lassen. Es gab keinen Zweifel daran, was Karen meinte. Der Albtraum, bei dem sie gefallen war und irgendetwas ihr die Luft zum Atmen genommen hatte … Auch jetzt, wo die Erinnerung zurückkehrte, fehlte ihr die Kraft, tief Luft zu holen. Sie starrte auf die Nagelschere. Aber was hatte das alles mit dieser Schere zu tun?
„Vielleicht war es wirklich kein Traum …“, hauchte Karen.
Livia schluckte schwer. Kein Traum? Sie starrte auf das Blut und erinnerte sich daran, dass sie keine sichtbaren Verletzungen davongetragen hatte. Aber sie erinnerte sich auch daran, dass sie gekämpft und dieses Stöhnen gehört hatte … „Du glaubst auch, dass da jemand war?“, flüsterte sie ungläubig. „Du glaubst, ich hab ihn mit der Schere verletzt?“
„Es gab … Blutstropfen. Einen vor der Tür … ein paar im Flur …“
Livia griff sich an die Kehle. „Aber wenn … wenn du es gewusst hast … wieso hast du mir nichts davon gesagt?“
Dieses Mal erhielt sie keine Antwort.
„Ich versteh das nicht!“, sagte Livia tonlos. „Du hast mich immer in dem Glauben gelassen, es sei nur ein Traum gewesen!“
„Bitte verzeih mir
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