Als gaebe es kein Gestern
mir“, krächzte Livia. „Nicht jetzt.“
„Und worauf gründet sich diese ‚Liebe‘?“, erkundigte sich Arvin. Seine Worte trieften vor Herablassung.
„Sie gründet sich auf das, was in meinem Herzen ist“, presste Livia hervor.
„Und das wäre?
Livia atmete einmal tief durch. „Da ist zum Beispiel der Wunsch, dass es dir gut geht. In dieser Intensität hab ich das noch nie für jemanden empfunden. Ich möchte …“ Sie musste kämpfen, um die Fassung zu wahren. „Ich möchte, dass du wieder mal lachst … dass du dich freust und unbeschwert bist … dass deine Augen leuchten … so wie damals …“ Sie fasste sich unwillkürlich an die Lippen und hatte das Gefühl, als könnte sie noch einmal seine Küsse spüren. „Aber es geht dir nicht gut, das sehe ich. Du leidest – genau wie ich. Es würde dir tausendmal besser gehen, wenn wir uns versöhnen würden … wenn –“
„Schluss jetzt!“, fiel ihr Arvin ins Wort. Immerhin war er jetzt aus seinem Sessel nach vorn geschossen und tat nicht mehr so unbeteiligt. Aber er sah sie auch jetzt nicht an. „Ich entscheide, was gut für mich ist. Und ich sage, dass ich Abstand brauche. Und wenn ich keinen räumlichen Abstand bekomme, will ich wenigstens emotionalen! Ist das klar? “
Livias Stimme glitt ins Weinerliche ab. „Ich kann das nicht, Arvin! Ich brauche dich! Du bist es, der mir eine Identität gegeben hat.“ Sie griff in ihre Hosentasche und kramte ihren mittlerweile ziemlich verknitterten Lieblingszettel daraus hervor. „Sieh doch!“ Sie hielt ihm den Zettel entgegen, erntete aber auch jetzt keinen einzigen Blick. „Ich trage ihn immer bei mir. Er verkörpert, was ich bin. Und das Schlimme ist …“ Sie begann zu schluchzen. „Das Schlimme … ist … dass er noch lange … nicht … fertig ist! Sieh dir doch … die ganzen Lücken an!“
„Hör auf“, knurrte Arvin.
In Livias Weinen mischte sich ein hysterisches Lachen. „Wir sind uns ähnlich, du und ich …“
Arvin sah sie an, als zweifele er an ihrem Geisteszustand.
„Wir haben beide ein ‚V‘ in der Mitte.“ Sie hatte schon so manches Mal darüber nachgedacht.
Es dauerte einen Moment, bis Arvin begriff, dass sie ihre Vornamen meinte. „Und wofür steht es?“
„Ich weiß nicht … vielleicht für Vakuum …?“, brachte Livia hervor. Sie hatte aufgehört zu schluchzen. Dafür rannen die Tränen jetzt völlig ungehindert an ihren Wangen hinunter. „Bei mir resultiert dieses Vakkum aus Vereinsamung … Verzweiflung … Verwirrung.“ Ihr Gesicht spiegelte genau das wider … „Und bei dir?“ Sie überlegte einen Moment. Dann flossen die Worte wie von selbst aus ihr heraus. „Verlust“, flüsterte sie und spürte, wie ihr etwas offenbart wurde, „Verlassensein … Verschlossensein … Verhärtetsein …“ Ihre Stimme verklang und ihre Worte verloren sich im immerwährenden Ticken der Wohnzimmeruhr.
Kapitel 33
Der Krebs war ein unberechenbarer Hausgenosse. Manchmal machte er sich unsichtbar. Dann war Karen das blühende Leben, und man merkte kaum, dass eine tödliche Krankheit in ihr lauerte.
An anderen Tagen wiederum fand sie kaum aus dem Bett, erbrach sich in einer Tour und hatte eine Hautfarbe, die man nur als grau bezeichnen konnte.
Mit der Zeit lernte Livia, spontan und flexibel zu sein. Sie hörte auf, jeden Tag im Voraus zu planen, und verhielt sich so, wie es für Karen am besten war. Wenn diese einen schlechten Tag hatte, schnappte sich Livia Vanessa und ging mit ihr auf den Spielplatz, in eine Eisdiele oder ins Schwimmbad. Hatte Karen einen guten Tag, zog sich Livia zurück und überließ die beiden sich selbst. Tage, an denen es Karen mittelprächtig ging, verbrachten alle drei zu Hause. Oft spielten sie dann Spiele, malten Bilder, kneteten oder bastelten miteinander. Livia konnte dann die unangenehmen Aufgaben übernehmen. Sie schaffte alles herbei, was nötig war, räumte auf, wies Vanessa zurecht, wenn es sein musste, und sorgte dafür, dass sich Karen nicht übernahm.
Manchmal wunderte sie sich selbst, woher sie all die Kraft nahm. Trotz Arvin, trotz seiner Ablehnung, trotz der hohen Belastungen funktionierte sie einwandfrei, wie ein Uhrwerk, das einfach weiterlief, obwohl es schon lange niemand mehr aufzog.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte Livia, als sie eines Abends mit Karen, Vanessa und Arvin beim Abendbrot saß.
Karen blickte auf. Sie war heute noch blasser als sonst und saß schon seit Längerem vor einer halben Scheibe Brot,
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