Als gaebe es kein Gestern
…“
Hinter Livia öffnete sich die Tür und eine Schwester steckte den Kopf in den Raum hinein. Es war die gleiche, die ihr vorhin beim Anziehen des Kittels geholfen hatte. „Sie müssen jetzt wirklich gehen!“, mahnte sie eindringlich.
„Ja, sofort!“, nickte Livia und wartete, bis sich die Tür wieder geschlossen hatte.
„Du hast es auch Herrn Walther nicht gesagt!“, klagte sie Karen an.
Wieder keine Antwort.
Aber auch das setzte eine ganze Kette von Gedanken in Gang. „Du hast geglaubt, es könnte Arvin gewesen sein“, schlussfolgerte Livia voller Entsetzen.
Hinter ihr öffnete sich die Tür ein weiteres Mal.
„Es tut mir wirklich leid, aber jetzt ist Schluss“, sagte die Schwester. Obwohl sie klein und zierlich war und ausgesprochen sanftmütig wirkte, schien sie sich durchsetzen zu können. Als Livia nicht reagierte, trat sie ein, ging auf Livia zu, nahm sie am Arm und wollte sie in Richtung Tür ziehen. „Bitte gehen Sie jetzt.“
„Ist das die Wahrheit?“, fragte Livia und blieb einfach stehen, wo sie war.
„Frau Scholl!“, schimpfte die Schwester und zerrte an Livias Arm.
„Antworte mir, Karen!“, forderte Livia in einem lauten, eindringlichen Befehlston. „Ich gehe nicht, wenn du mir nicht antwortest!“
„Ja“, hauchte Karen und begann, auf ziemlich erbärmliche Weise zu schluchzen. „Das ist die Wahrheit! Ja!“
❧
Karens Geständnis war so verstörend, dass es Livia das letzte bisschen Boden unter den Füßen wegzog.
Arvin ein potenzieller Mörder?
Nach dem Zwischenfall mit der Heizungsanlage hatte Livia ihn schon selbst verdächtigt, aber dann beschlossen, dass er harmlos war. Sie versuchte, sich zu erinnern.
Er hatte gesagt, er sei Christ und würde niemals töten. Außerdem … genau … was sie überzeugt hatte, war die Tatsache, dass er mit ihrem auch Spikes Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Und das, genau das, war Arvin beim besten Willen nicht zuzutrauen.
Oder?
Karen war der Mensch, der Arvin von allen am besten kannte. Wenn sie es für möglich hielt, dass er einen Mord begehen könnte, dann war es auch möglich! Wenn sie ihn verdächtigte, dann war er verdächtig!
Bei dem Gedanken kroch die nackte Angst über Livias Rücken. Der Feind im eigenen Haus? Und das jetzt, wo sie mit Arvin allein war? Wo Karen im Krankenhaus lag?
Livia wagte sich an diesem Tag kaum nach Hause und begegnete Arvin mit regelrechter Angst in den Augen. Was, wenn er den nächsten Schachzug schon längst geplant hatte? Wenn er nur abwartete, bis Karen gestorben war, um dann sie, Livia, hinterherzuschicken?
Als sich Arvin beim Abendbrot plötzlich von seinem Platz erhob, hüpfte Livia erschrocken samt ihrem Stuhl ein paar Zentimeter rückwärts.
Arvin hielt mitten in seiner Bewegung inne und sagte: „Ich wollte nur Käse holen …“ Dann starrte er Livia durchdringend an. „Stimmt irgendetwas nicht?“
Livia schluckte. „Alles … in Ordnung“, hauchte sie und blickte starr auf ihn.
Aber Arvin hielt ihrem Blick noch immer stand. „Es … es belastet mich auch.“
Livia verlor sich einen Moment in seinen dunklen Augen. Das waren die ersten freundlichen Worte, die er seit Wochen mit ihr gewechselt hatte. Und das ausgerechnet heute!
„Wir könnten …“ Arvin trat unentschlossen von einem Bein aufs andere und blickte von Livia zu Vanessa. „Wir könnten gemeinsam für deine Mama beten …“
In Vanessas Gesicht leuchtete etwas auf. „Dass sie wieder nach Hause kommt“, brach es aus ihr hervor. „Ich will, dass sie wieder nach Hause kommt.“
„Das wollen wir auch“, sagte Arvin und schaffte es, seiner Nichte aufmunternd zuzulächeln. „Los, kommt.“ Er setzte sich wieder. „Wir sagen Jesus alles, was uns bedrückt.“
Vanessa faltete sofort ihre Hände und schloss die Augen.
Arvin hingegen starrte schon wieder auf Livia.
Um seinem Blick zu entgehen, schloss auch Livia die Augen.
„Lieber Herr Jesus“, begann Vanessa, „bitte mach meine Mama wieder gesund.“ Ihre Stimme klang bei diesen Worten so dünn und so zerbrechlich, dass sich ein dicker Kloß in Livias Hals bildete. „Bitte mach, dass sie wieder nach Hause kommt“, fuhr Vanessa fort. „Und lass den Krebs weggehen.“
Allmählich gesellte sich eine ordentliche Prise Wut zu Livias Trauer. Wieso tat Arvin das? Wieso ließ er zu, dass neue Hoffnung in Vanessa aufkeimte? Hoffnung, die sowieso nicht erfüllt werden würde? Oder hatte er ihre – Livias – Angst gespürt und zog nur eine Show ab, um
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