Als gaebe es kein Gestern
hervor. „Ich hab nur einen Bruchteil von dem zurückgegeben, was du mir gegeben hast! Und ich will …“ Sie begann erneut zu schluchzen. „Ich will … noch mehr machen. Ich will … dass du nach Hause zurückkommst …“
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Karen. „Vielleicht … vielleicht ist es schon so weit …“
„Sag das nicht! Sag das nicht!“, schluchzte Livia und presste Karens Hand so auf ihre Wange, als müsse sie von ihr gestreichelt werden.
„Ich muss wissen, dass du das schaffst“, sagte Karen. „Ich muss wissen, dass du gut für Vanessa sorgen wirst.“
„Natürlich werde ich gut für Vanessa sorgen!“, schluchzte Livia und knetete dabei verzweifelt Karens Hand. „Ich werde wie eine Mutter für sie sein. Das verspreche ich dir. Ich verspreche es dir! Aber ich will nicht …“ Ihr Ton wurde lauter und energischer. „Ich will nicht, dass du das als Freibrief zum Sterben ansiehst“, brach es aus ihr hervor. „Ich will, dass du kämpfst! Dass du dich wieder aufrappelst. Sonst … sonst … sonst bring ich dich nämlich um!“ Es dauerte einen Moment, bis der Irrsinn ihrer Worte zu Livia vordrang. Dann aber löste er ein Lachen und einen neuen Schwall Tränen gleichzeitig aus.
Und auch Karen grinste ein wenig. „Abgemacht“, flüsterte sie, hörte sich dabei aber so schwach und müde an, dass Livia aufstand.
„Du musst jetzt schlafen“, erklärte Livia. „Die Schwester hat gesagt, ich dürfte nur für ein paar Minuten zu dir rein.“
„Da ist noch etwas …“, sagte Karen, obwohl ihre Augen bereits geschlossen waren. Sie war offensichtlich tatsächlich furchtbar erschöpft.
Livia blieb abwartend vor ihr stehen, nutzte aber die Gelegenheit, unter ihrem Kittel nach einem Taschentuch zu graben.
„Wegen Vanessa“, begann Karen ein wenig zögerlich.
Livia wischte sich ihr tränenüberströmtes Gesicht ab und schnäuzte sich geräuschvoll. „Ich hab dir doch gesagt: Ich werde mich gut um sie kümmern.“
Karen schüttelte ganz leicht den Kopf, hielt ihre Augen aber geschlossen. „Das ist es nicht“, seufzte sie. „Es ist …“
„Ja?“
„Ihr … ihr Vater“, stammelte Karen. „Hast du dich je gefragt …“
„Schon …“, gab Livia zu. „Aber da du nie darüber reden wolltest …“
„Enno ist ihr Vater.“
Das Taschentuch, das Livia eben noch benutzt hatte, fiel zu Boden.
Karen öffnete einen Spaltbreit die Augen und streifte Livia mit einem vorsichtigen Blick. „Ihr biologischer Vater“, fuhr sie fort. „Nicht mehr und nicht weniger.“
Livia konnte nicht antworten. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Enno Vanessas Vater? Enno, den Karen so sehr verachtete? Oder war gerade das der Grund für ihre Abneigung? Hatte er sich vor der Verantwortung gedrückt? Livia erinnerte sich noch allzu gut an den Streit, den Karen und Enno miteinander gehabt hatten. „Die Abmachung, von der damals bei eurem Streit die Rede war …“, hörte sie sich sagen.
Karen atmete ein paarmal tief durch. Es war ein schweres, schnaufendes Atmen. „… besagt, dass Arvin niemals etwas davon erfahren darf“, presste sie schließlich hervor. „Weder davon, dass ich mich mit Enno eingelassen habe, noch davon, dass er uns verraten hat …“
„Verraten? Was heißt das? Hat er dich fallen gelassen, als du schwanger wurdest?“
Karen verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Wie eine heiße Kartoffel.“
„Aber ich verstehe trotzdem nicht … Wieso darf Arvin nichts davon erfahren?“
„Na, weil … Ich weiß auch nicht … Wir haben ihm die Beziehung ja von Anfang an verschwiegen …“
„Warum?“
Ein Hauch von Ärger mischte sich in Karens Schwäche. „Warum? Warum? Du kennst Arvin nicht … Er ist so furchtbar eifersüchtig …“
Livia hob irritiert die Augenbrauen. „Auf seine Schwester?“
„Wir haben nun mal eine sehr enge Beziehung“, seufzte Karen. „Und Arvin ist … Er ist … Du weißt, wie sehr er Veränderungen hasst, oder? Außerdem wusste ich, dass er unsere Beziehung niemals gutgeheißen hätte. Schließlich hat sich Enno von jeher über unseren Glauben lustig gemacht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Heute verstehe ich mich selbst nicht mehr. Enno und ich … wir … wir leben in völlig verschiedenen Welten. Und im Grunde … hatte ich ja auch von Anfang an das Gefühl, dass ich besser die Finger von ihm lassen sollte.“ Sie seufzte tief. „Aber ich hab mich damals so allein gefühlt und Enno war so attraktiv … und so hartnäckig.“
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