Als gaebe es kein Gestern
ob es wirklich richtig war.“
Es dauerte einen Moment, bis Arvin begriff, was Gunda da gesagt hatte. Aber als er es tat, wirbelte er herum und starrte Gunda an. „Das ist es! So denkt sie!“
Gunda hörte auf zu weinen und starrte zurück. „Was?“
„Sie kehrt zurück zu diesem Zeitpunkt. Und zu diesem Ort. Darum hat sie den Wagen genommen. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen?“
„Ich verstehe überhaupt nichts.“
Arvin riss die Wagentür auf. „Beeilen Sie sich, Herr Lorenz, ich glaube, ich weiß, wo sie ist!“
❧
Manfred hatte inzwischen ein Tempo drauf, das er noch nie zuvor gefahren war. Er kümmerte sich nicht mehr um Geschwindigkeitsbegrenzungen, hatte bereits einen Polizeiwagen abgehängt und war mit durchgetretenem Gaspedal auf dem Weg in höher gelegene Regionen.
Der Unfall, bei dem Livia damals verletzt worden war, hatte sich in einer Bergregion nur etwa fünfzehn Kilometer von der Stadt entfernt ereignet. Je näher sie der Stelle kamen, desto unruhiger wurde Arvin. „Bitte, Herr“, flehte er leise, „bitte lass etwas dazwischengekommen sein.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten. „Das Benzin könnte ihr ausgegangen sein. Der Motor könnte versagt haben …“
Aber als sie schließlich auf die Stelle zukamen, wurde schnell klar, dass das alles nicht der Fall war. Die Leitplanke sah genauso zerfetzt aus wie damals! Ein paar der ausgerissenen Metallflächen glitzerten in der Sonne.
„Nein, bitte … bitte, bitte nicht“, jammerte Arvin und sprang schon aus dem Wagen, als er noch rollte. Dann rannte er auf die kaputte Leitplanke zu.
„Warten Sie auf mich!“, rief Manfred hinter ihm her und zerrte mit so viel Kraft an der Handbremse, dass diese laut und protestierend knarrte. Dann stürmten er und Gunda hinter Arvin her.
„Rufen Sie einen Krankenwagen“, brüllte Arvin und sprang bereits auf eine kleine Ebene, die sich vielleicht anderthalb Meter unterhalb der Straße befand. Von dort ging es einen Abhang hinab, der aus Felsvorsprüngen und einigen niedrig wachsenden Pflanzen bestand.
„Bringen Sie sich nicht selbst in Gefahr“, rief Manfred hinter ihm her, fand damit aber keinerlei Gehör.
Als er mit Gunda den Straßenrand erreichte, bot sich ihnen ein beängstigendes Bild. Viele Meter unter ihnen lag ein Wagen. Ob es Arvins war, konnten sie nicht erkennen. Da er alle vier Räder in den Himmel streckte, war von oben nicht einmal seine Farbe zu erkennen, geschweige denn sein Kennzeichen oder sein Fahrer. Und doch zweifelte niemand …
„Kann man so etwas überleben?“, flüsterte Gunda.
Währenddessen hatte Manfred bereits sein Handy aus der Tasche gezogen und die Nummer 110 gewählt.
„Wenn er so weitermacht“, flüsterte Gunda verängstigt, „brauchen wir zwei Krankenwagen.“ Es war deutlich erkennbar, dass Arvin auf seinem Weg nach unten sämtliche Vorsicht außer Acht ließ. Er rannte, kletterte, stolperte wie ein wild gewordener Stier in die Tiefe und kam in dem Moment unten an, in dem Manfred mit der Einsatzleitstelle telefonierte …
❧
„Livia“, krächzte Arvin, doch konnte man den Namen kaum verstehen, weil er so außer Atem war, dass er fast röchelnd nach Luft rang. Er hatte den Wagen inzwischen erreicht, kniete neben ihm und konnte durch die Scheibe sehen, dass all seine Befürchtungen zutrafen. Sie war im Wagen! Und sie blutete. Überall war Blut, sogar an der Fensterscheibe! Und sie lag in einer seltsam verdrehten Position auf der Fläche, die einmal das Dach des Wagens gebildet hatte.
Kein Gurt! Ganze Arbeit geleistet …, schoss es Arvin
durch den Kopf.
„Livia“, keuchte Arvin ein weiteres Mal, richtete sich auf und riss mit aller Kraft am Griff der Fahrertür. Doch sie ließ sich nicht öffnen, bewegte sich keinen Millimeter. Verzweifelt zerrte er an der Tür, stemmte sich mit dem Fuß gegen die Karosserie, zog mit aller Kraft und hatte doch keinen Erfolg.
Er ließ sich erneut auf die Knie fallen und blickte durch die Fensterscheibe. Wenn sie sich wenigstens bewegt hätte! Wenn er sie hätte atmen sehen können! „Oh, Gott, bitte, lass sie noch leben“, flehte er, „bitte!“
Als er sich ein weiteres Mal aufrichtete, hörte er Gunda von oben rufen: „Ist sie am Leben?“
Aber er kümmerte sich nicht darum, hätte die Frage ohnehin nicht beantworten können. Stattdessen umrundete er den Wagen und versuchte, die Beifahrertür zu öffnen. Und tatsächlich … sie knarrte zwar, ging auch etwas schwer, leistete aber keinen
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