Als gaebe es kein Gestern
wirklichen Widerstand. Und sie blieb auch noch offen stehen, als er sie losließ!
„Bitte, Herr“, flehte er noch einmal und kroch in den Wagen. Dort musste er dann allerdings feststellen, dass der Abstand zwischen Decke und Sitzen äußerst gering war. Um sich Platz zu verschaffen, löste er die Arretierung der Kopfstütze, zog sie nach unten weg und warf sie hinter sich aus dem Wagen. Jetzt konnte er vorwärtskriechen … erreichte Livia … und suchte mit der Hand zuerst nach ihrem Hals … nach ihrem Puls. Und er fand ihn! Kräftig, viel kräftiger als erwartet, pochte er gegen seine schweißnassen Finger.
„Oh, Gott, danke“, stieß er hervor und suchte als Nächstes nach der Verletzung, die das viele Blut verursacht hatte. Und auch hier hatte er sofort Erfolg. An der Schulter, die ihm zugewandt war, klaffte eine große Wunde, aus der immer noch Blut sickerte. Da der Pullover, den Livia trug, ebenso aufgeschlitzt war wie ihre Haut, konnte er erkennen, dass die Wunde nicht nur breit, sondern auch furchtbar tief war.
Er überlegte kurz, krabbelte dann ein Stück in den hinteren Teil des Wagens und schaffte es, mit dem Arm in den Kofferraum zu langen. Er griff zielsicher in den rechten Seitenbereich und kramte von dort den Verbandskasten hervor. Jetzt half ihm die Tatsache, dass es sein Wagen war, mit dem Livia unterwegs gewesen war.
Noch während er zurück zu Livia kroch, riss er den Verbandskasten auf, was allerdings zur Folge hatte, dass dessen gesamter Inhalt herausfiel. Glücklicherweise landeten die Mullbinden dabei direkt vor seiner Nase. Er riss eine davon auf, wickelte sie zweimal um Livias Wunde und benutzte die andere als Druckmittel zum Erstellen eines Druckverbandes. Als er sie fest auf die Wunde presste, stöhnte Livia leise auf, erwachte aber nicht.
So schnell er konnte, vollendete Arvin sein Werk, suchte dann noch einmal neu nach schwereren Verletzungen, fand aber keine und ließ sich schließlich völlig erschöpft neben Livia auf das ausgepolsterte Dach des Wagens sinken. Ein paar Sekunden blieb er schwer atmend so liegen. Dann rückte er so weit wie möglich an Livia heran, vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und atmete den Geruch von Äpfeln und Zimt ein.
Wieso hatte er nicht schon früher bemerkt, dass es das hier, nur das hier war, was er schon immer hatte tun wollen?
„Vergib mir“, flüsterte er und wusste selbst nicht, ob er Livia oder Gott oder beide meinte.
Nicht viel später ertönte in der Ferne die Sirene eines Krankenwagens.
❧
Als Livia die Augen aufschlug, dauerte es nur Sekundenbruchteile, bis sie begriff, dass sie sich in einem Krankenhaus befand. Sie hatte zu viel Zeit in dieser Umgebung verbracht, als dass es irgendeinen Zweifel daran geben konnte. Die weiß gehaltenen Wände und Schränke, die schneeweiße Bettwäsche, der Geruch von Desinfektionsmitteln …
Aber wo war Karen? Sie hatte doch sonst immer an ihrem Bett gesessen, wenn sie aufgewacht war …
Die Erinnerung an alles, was geschehen war, ließ nicht lange auf sich warten. Karen tot … Arvin … der Friedhof …
Aber warum fühlte sie sich so normal? Sie hatte keine Schmerzen und ihr Kopf war klar, ihr Denken vollkommen unbeeinträchtigt.
Sie hob die linke Hand, stellte fest, dass diese an einem Tropf hing, und tastete damit vorsichtig ihren Kopf und ihr Gesicht ab. Alles in Ordnung. Dann wollte sie ihre rechte Hand heben, ließ jedoch davon ab, als ein heftiger Schmerz in ihre rechte Schulter fuhr. Also doch! Sie hob mit der linken Hand die Bettdecke hoch und stellte fest, dass ihre rechte Schulter bandagiert war. Aber das war dann auch schon alles. Alle anderen Körperteile schienen vollkommen unverletzt.
Wie war das möglich? Was war schiefgegangen? Warum war sie nicht tot?
„Kann hier denn überhaupt nichts klappen?“, schimpfte sie und richtete sich langsam auf. Die Schulter pochte jetzt ziemlich stark und ein bisschen schwindelig war ihr auch. Trotzdem fühlte sie sich fit genug, um das, was sie einmal begonnen hatte, auch zu Ende zu bringen. Der Wille zu sterben war nicht aus einer Laune heraus entstanden. Auch nicht aus der Verzweiflung, die sie – zugegebenermaßen – gestern oder vorgestern Nacht empfunden hatte. Nein, es war eine Entscheidung, die sie gründlich genug durchdacht hatte. Sie wollte nicht mehr leben. Warum auch? Für wen?
Einen kurzen Moment zögerte sie. Vanessa … Für Vanessa hätte es Sinn gemacht. Aber wenn sie Arvin verließ, bestand auch keine Möglichkeit
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