Als gaebe es kein Gestern
mehr, für Vanessa zu sorgen. Und Arvin zu verlassen, daran führte nun einmal kein Weg vorbei.
Sie richtete ihren Blick auf die Kanüle, die in ihrem Handrücken steckte und ihren Körper mit Flüssigkeit versorgte. Die musste als Erstes ab, war allerdings mit einem Pflaster fixiert. Um die rechte Schulter nicht unnötig zu belasten, führte sie ihre linke Hand bis ganz an ihre rechte heran und versuchte dann, das Pflaster zu lösen. Unglücklicherweise saß es ausgesprochen fest. Und sie hatte ja auch immer noch Probleme mit ihrer rechten Hand. Besonders feinmotorische Bewegungen fielen ihr schwer. Auf diese Weise dauerte es einen Moment, bis sie das Pflaster endlich abgepult hatte. Im Vergleich dazu war es ein Kinderspiel, die Kanüle loszuwerden.
Jetzt schwang sie ihre Beine aus dem Bett und probierte aus, ob diese sie tragen würden. Und tatsächlich, es klappte auf Anhieb. Sie machte ein paar Schritte auf das Fenster zu, zog die Gardine zur Seite und blickte hinaus.
Nun, das war mindestens der vierte Stock. Wenn nicht schon wieder alles schiefging, sollte das reichen.
Als sie sich dann allerdings vorstellte, wie sie dort unten liegen würde, wurde ihr doch etwas mulmig zumute. Abgesehen davon konnte sie sich nicht vorstellen, in diesem halb offenen Krankenhaushemd dort zu liegen!
Deshalb hielt sie jetzt auf die Schränke zu, öffnete einen nach dem anderen und fand schließlich einen größeren Haufen Kleidungsstücke … Unterwäsche, Pullover, Hosen.
Sie musste schlucken. Da es eindeutig ihre Sachen waren, musste Arvin sie geholt haben. Was hatte er wohl beim Zusammenpacken gedacht? Hatte auch er sich gefragt, warum sie nie etwas vernünftig zu Ende bringen konnte?
Der Gedanke trieb Tränen in ihre Augen und rief eine neue Entschlossenheit hervor. So schnell sie konnte, zog sie sich an, holte einen Stuhl und eilte damit zum Fenster zurück. Dann öffnete sie es und stieg mithilfe des Stuhles hinauf auf das Fensterbrett. Da das Fenster ungewöhnlich hoch war, konnte sie fast aufrecht im Rahmen stehen.
Kühle, frische Luft strömte ihr entgegen und gaukelte ihr noch einmal vor, dass sich das Leben lohne.
Dann ging die Tür auf.
„Jetzt reicht’s mir aber wirklich“, hörte sie Arvins Stimme. „Ich muss mir diese stundenlangen Verhöre nicht bieten lassen.“
Erschrocken drehte sich Livia um und sah, dass Arvin das Krankenzimmer betrat. Aber er kam nicht allein: Hinter ihm war noch jemand.
„Das müssen Sie sehr wohl“, fauchte Kommissar Walther. „Sie waren von Anfang an verdächtig. Und sie wussten, wo sich Ihre Frau befindet, obwohl das nicht in ihrem Abschiedsbrief stand. Und deshalb werde ich erst dann an einen Selbstmordversuch glauben, wenn Ihre Frau mir das persönlich be–“
Der Satz endete, weil Herr Walther auf Arvin auflief, der ganz abrupt stehen geblieben war.
„Livia“, keuchte Arvin erschrocken und stürmte auch schon vorwärts.
„Bleib stehen!“, kreischte Livia. „Oder ich springe sofort!“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, lehnte sie sich aus dem Fenster und hielt sich nur noch mit der linken Hand am Rahmen fest.
Arvin bremste genauso abrupt wieder ab, wie er losgesprintet war, und stand jetzt noch ungefähr anderthalb Meter von ihr entfernt. „Livia, bitte …“, beschwor er sie atemlos. Dann streckte er ihr flehend die Arme entgegen. „Bitte tu das nicht.“
„Frau Scholl, ich bitte Sie!“, rief nun auch Herr Walther.
Livia warf noch einen prüfenden Blick in die schwindelerregende Tiefe und beugte sich dann wieder ein Stück vor. „Jetzt tu doch nicht so, als ob es dir etwas ausmacht“, sagte sie und funkelte Arvin herausfordernd an.
„Es macht mir etwas aus, wirklich“, beteuerte Arvin. „Was … was du getan hast, hat mich aufgerüttelt und … mir die Augen geöffnet.“ Er merkte, dass seine Worte in dieser Situation nicht glaubwürdig klangen, und raufte sich verzweifelt die Haare. „Hör doch! Als ich deinen Brief fand, wurde mir sofort klar, wie dumm ich mich benommen habe. Und dass ich mir jetzt selbst wegnehme, was ich liebe. Verstehst du das?“
Livia musste schlucken, war aber noch längst nicht geneigt, ihm zu glauben. „In dieser Situation würdest du mir alles erzählen, nicht wahr?“
Arvin schüttelte den Kopf. „Nein. Würde ich nicht. Wenn ich der wäre, für den du mich inzwischen hältst, würde ich dich springen lassen. Ist doch so …“
„Ihr Mann hat Sie gefunden“, meldete sich nun Herr Walther zu Wort.
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