Als gaebe es kein Gestern
an die schlechteren Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Jetzt konnte sie ein paar große alte Eichenschränke ausmachen, die mit kunstvollen Blumenreliefs verziert waren. Zu ihrer Rechten stand außerdem ein Tisch mit sechs Stühlen, einer weißen, mit der Hand gearbeiteten Tischdecke und einem vollständigen Kaffeegeschirr. Außerdem gab es Ölgemälde an den Wänden: eines mit einem Stillleben, zwei mit Landschaften. Alles in allem wirkte auch die Diele sauber und sehr gepflegt. Es gab keine Spur von Spinnweben, Dreck oder Durcheinander.
Frau Cordes war inzwischen an der rückwärtigen Tür angelangt, öffnete sie … und rief damit eine kleine Explosion hervor. Diese stürzte in Form eines haarigen, quirligen Etwas laut bellend und winselnd in die Diele, passierte Gunda und Manfred, gelangte zu Livia und flippte an dieser Stelle vollends aus. Der Hund – der im Übrigen ziemlich groß und schwarz-weiß gefärbt war – drehte sich ein paarmal bellend um die eigene Achse, sprang dann an Livia hoch, schleckte ihr ungehemmt durchs Gesicht und wedelte dabei mit dem Schwanz, als hätte er einen Propeller, mit dem er demnächst abheben wolle.
„Nellie“, seufzte Livia, schlang beide Arme um den Hund und vergrub ihr Gesicht in seinem Fell, „miene söte Dirn.“
Gunda warf Manfred einen vielsagenden Blick zu und sah dann noch geraume Zeit dabei zu, wie Livia – pardon … Angelika – mit dem Hund schmuste und kuschelte.
Währenddessen erschien ein Mann im Türrahmen, der die ganze Szene ein wenig befremdet beobachtete und offensichtlich verzweifelt versuchte, einen Blick auf Angelika zu erhaschen. Er hatte das ungefähre Alter von Frau Cordes, war ähnlich schlank und groß und trug ein braun-blaues Holzfällerhemd und eine beigefarbene Hose. Am auffälligsten aber war der handtellergroße rote Fleck, der an seinem rechten Wangenknochen begann und sich von dort über das rechte Auge bis zur Schläfe erstreckte.
Frau Cordes trat jetzt von hinten an Angelika heran, legte die Hand auf ihre Schulter und sagte: „Wellste nich dien Vadder begröten?“
Livia wandte erstaunt den Kopf, sah den Mann … und zog die Stirn in Falten. Anschließend wehrte sie sanft den Hund ab, der noch immer nicht genug von ihr bekommen konnte, und erhob sich. Sie ging langsam auf ihren Vater zu, blieb ein paar Meter vor ihm stehen und sagte kaum hörbar: „Uck wenn et so utsöet, as wär ick hier to Hus … ick kann mie nich an die erinnern.“
Dem Mann schien es irgendwie ähnlich zu ergehen. Jedenfalls starrte er immer noch unentwegt in Livias Gesicht und sagte kein einziges Wort.
„Wo is Dschan affbläben?“, fragte Frau Cordes ihren Mann.
„Ick glöv, he trout sick nich.“
Frau Cordes seufzte tief, wandte sich an Gunda und Manfred und sagte: „Diese Kinder … Man fragt sich wirklich, ob man sie irgendwann groß kriegt. Kommen Sie, wir setzen uns erst einmal.“ Mit diesen Worten steuerte sie auf den Tisch zu, rückte ein paar Stühle ab und bedeutete Gunda und Manfred Platz zu nehmen. Dann drehte sie sich um, sah den Hund an und sagte im Befehlston: „Nellie, ab in ’ne Köken.“ Der Hund erhob sich umgehend und trottete auf die geöffnete Tür zu. Als er dann aber Livia passierte, blieb er stehen und warf ihr einen sehnsüchtigen Blick zu. „Nellie!“, warnte Inge Cordes und erreichte damit, dass sich der Hund wieder in Bewegung setzte und brav den Raum verließ.
„Der gehorcht aber gut“, bemerkte Gunda, die sich inzwischen hingesetzt hatte.
„Ja“, seufzte Frau Cordes, „besser als der Rest der Familie.“ Dann lachte sie. „Kleiner Scherz.“
Gunda lachte mit, wirkte dabei aber etwas gequält. „Hübsches Geschirr“, sagte sie und deutete auf den Tisch. Dort standen Tassen, Untertassen und Teller, die zueinander passten und mit einem Blumenrelief verziert und bunt bemalt waren.
Inge Cordes begann zu strahlen. „Nicht wahr? Es stammt noch von meiner Großmutter. Sie hat es zu ihrer Hochzeit bekommen. Und deshalb hüte ich es wie meinen Augapfel. Ob Sie es glauben oder nicht … es fehlt noch kein einziges Teil. Alles komplett – zwölf Tassen, zwölf Untertassen und zwölf Teller … Ist das nicht wundervoll? Sie müssen wissen, dass wir hier sehr großen Wert auf Traditionen legen. Der ganze Hof ist so aufgebaut, dass die Vergangenheit weiterlebt. Ihnen ist bestimmt aufgefallen, dass es von vorne nichts gibt, was auf unsere jetzige Zeit hindeutet. Wir haben alles so gelassen wie vor zweihundert
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