Als gaebe es kein Gestern
Jahren!“
„Sie sagten: ‚von vorne‘“, meldete sich nun Manfred zu Wort. Seine Haltung verriet deutliches Interesse. „Heißt das, dass der Hof eigentlich gar nicht das ist, was er einem vermittelt? Also, von vorne macht er den Eindruck, als wäre es ein kleiner Hof, vielleicht … na ja, ich kenn mich mit Bauernhöfen nicht so aus, aber … es gibt doch Biobauern, die noch so weiterarbeiten wie früher …“
Dieter Cordes ließ Angelika stehen und machte ein paar Schritte auf Manfred zu. „So sieht es aus, nicht wahr? Es war der Wunsch meiner Frau, von vorne alles so zu belassen, wie es früher war. Das hier ist nämlich Inges Elternhaus. Aber wir sind in Wirklichkeit mit der Zeit gegangen, haben uns auf Ferkelerzeugung spezialisiert und fahren ausgesprochen gut damit. Wenn Sie mal mitkommen möchten, zeige ich Ihnen die Ställe. Man kann sie vom Haus aus sehen!“
„Jetzt aber nicht!“, fiel Inge ihm ins Wort. „Jetzt trinken wir erst einmal Kaffee.“ Sie wandte sich ihrer Tochter zu und fragte: „Hilfst du mir, Kaffee und Kuchen zu holen?“
Livia nickte und folgte ihrer Mutter durch einen Flur in eine riesige, hochmoderne Küche. Welch ein Gegensatz zu den übrigen Räumen!
Als hätte sie die Gedanken ihrer Tochter gelesen, sagte Inge auf Platt: „Die Küchengeräte von damals halten den heutigen Anforderungen nicht mehr stand.“
Livia antwortete nicht. Sie hatte ihre Sprache immer noch nicht so richtig wiedergefunden. Außerdem wartete sie im Grunde auf andere Themen. Interessierte es ihre Mutter denn gar nicht, wie es ihr ergangen war? Was sie erlebt hatte? Wie sie sich jetzt fühlte?
Frau Cordes hatte inzwischen den Kühlschrank geöffnet und einen Tortenteller samt Torte herausgeholt. Jetzt machte sie Anstalten, diesen Teller Livia in die Hand zu drücken.
„Oh, nein!“, wehrte diese ab. Obwohl sie das Platt, das hier gesprochen wurde, ganz offensichtlich ohne Probleme abrufen konnte, war ihr Hochdeutsch vertrauter. „Ich … ich kann nicht …“
Inge Cordes hielt mitten in ihrer Bewegung inne. „Wieso nicht?“, fragte sie auf Platt.
„Meine rechte Hand …“, begann Livia. „Ich hatte … diesen schweren Autounfall und hab rechts einfach keine Kraft mehr …“
„Oh“, sagte ihre Mutter und stellte den Tortenteller auf der Arbeitsplatte ab. Die Gelegenheit, mit ihrer Tochter über die Vergangenheit zu sprechen, ließ sie jedoch ungenutzt. „Könntest du denn den Kaffee nehmen?“
Livia nickte und nahm eine Thermoskanne entgegen. Dabei benutzte sie natürlich in erster Linie ihre linke Hand. Ganz nebenbei fiel ihr Blick auf die Torte. Was ihr vorher noch gar nicht aufgefallen war, sprang ihr jetzt direkt ins Auge. „Herzlich willkommen zu Haus“, stand da in großen bunten Lettern geschrieben. „Oh“, machte Livia und begann auf einmal zu strahlen. „Das ist ja … das ist ja wunderschön!“
„Wir freuen uns ja auch, dass du wieder da bist“, lächelte ihre Mutter. Sie sprach immer noch Platt. „Wir freuen uns wirklich sehr.“
„Ich freue mich auch“, brach es aus Livia hervor. „Die ganzen letzten Monate hab ich mich so entwurzelt gefühlt, so fehl am Platze und ich –“
„Wie trinken deine Freunde eigentlich den Kaffee?“, unterbrach Inge sie. „Schwarz oder mit Milch und Zucker?“
Livia war einen Moment lang wie vor den Kopf gestoßen. „Mit … nur mit Milch“, stieß sie schließlich hervor.
„Aha, schön“, nickte Inge. „Wir wollen ja gute Gastgeber sein, nicht wahr?“
„S-sicher“, stotterte Livia und folgte ihrer Mutter zurück in die Diele. Bereits in dem Moment, in dem sie die Tür durchschritt, fing sie einen Blick auf. Einen wirklichen Blick! Der junge Mann, zu dem er gehörte, saß neben Dieter Cordes am Tisch, hatte wuschelige blonde Haare und hellblaue Augen. Er sah sympathisch aus.
Livia blieb stehen und starrte ihn an. Sollte das etwa ihr Bruder sein? Wenn ja, dann musste er zweiundzwanzig Jahre alt sein, zwei Jahre jünger als sie selbst. Nun, das konnte hinkommen.
Derweil war Inge damit beschäftigt, die Torte auf den Tisch zu stellen, Livia den Kaffee aus der Hand zu nehmen, ebenfalls auf dem Tisch zu platzieren und wieder im Flur zu verschwinden. Alle anderen unterhielten sich angeregt.
„Ich kenn dich auch nicht wieder“, sagte der junge Mann auf Hochdeutsch und lächelte Livia freundlich zu.
Livia schluckte. „Bist du Jan?“, fragte sie leise.
Der junge Mann nickte und sah sie dabei immer noch unverwandt
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