Als gaebe es kein Gestern
Paket entgegenstreckte, stellte sie fest, dass sich seine Hände wie von selbst öffneten und das Geschenk in Empfang nahmen.
„Pack es aus, wenn ich weg bin“, bat Livia, „und dann entscheide dich zwischen ihm und seinem Gegenstück. In Ordnung?“
Arvins Blick bestand aus einem einzigen Fragezeichen.
„Merk dir einfach, was ich sage: Entscheide dich zwischen dem Inhalt des Pakets und seinem Gegenstück. Ich möchte, dass du mir eines davon zurückgibst – entweder das hier oder … Du wirst wissen, was ich meine.“
Arvin zog die Stirn in tiefe Falten. „Ich verstehe wirklich nicht …“, sagte er hilflos.
„Schick mir eins von beiden zu, okay?“, sagte Livia. „Eins von beiden, vergiss das nicht …“
Dann wandte sie sich ein weiteres Mal Vanessa zu, drückte sie noch einmal ganz fest und sagte leise: „Vierzehn, okay? Vierzehn!“
Vanessas Blick erhellte sich. „Vierzehn“, nickte sie.
„Bis dann“, flüsterte Livia und eilte auch schon aus dem Wohnzimmer.
Im Flur begrüßte sie Gunda mit einem unsicheren Lächeln.
„Wo ist dein Gepäck?“, wollte Gunda wissen.
Livia schüttelte ganz leicht den Kopf.
„Gar nichts?“, entfuhr es Gunda.
Livia antwortete nicht, weil Arvin in diesem Moment den Flur betrat.
„Es ist wirklich lieb, dass ihr mich fahrt“, sagte Livia leise.
„Tja, wenn sonst niemand bereit ist“, entgegnete Gunda und warf Arvin einen vorwurfsvollen, wenn nicht gar feindseligen Blick zu.
Livia schauderte und hatte das Gefühl, als würde der Boden unter ihren Füßen zu schwanken beginnen. Selbst Gunda ahnte nicht, wie sehr es sie schmerzte, dass Arvin nicht einmal bereit gewesen war, ihr diesen letzten Liebesdienst zu erweisen. Ein wenig umständlich zog sie Jacke und Schuhe an und drehte sich dann ein letztes Mal zu Arvin um. „Leb wohl“, sagte sie heiser.
Sein Blick blieb unbeteiligt. „Ja, leb wohl“, antwortete er. Und sonst nichts. Gar nichts.
Kapitel 44
„Anhalten!“, kreischte Livia und klang dabei fast schon hysterisch.
Manfred trat in die Bremse, als hinge sein Leben davon ab. „Was … was ist los?“, keuchte er, während er mit einem schabenden Geräusch mitten auf dem unbefestigten Weg zum Stehen kam.
„Ich will, dass ihr anhaltet“, piepste Livia, deren Stimme auf einmal sämtliche Energie verloren hatte.
Gunda drehte sich zu ihr um. „Jetzt beruhig dich mal“, sagte sie. „Wir hatten dich doch gehört. Und wir wollten doch auch anhalten. Wir haben bloß einen Platz gesucht, an dem wir vernünftig parken können.“
„Ich will aber nicht auf den Hof fahren“, krächzte Livia. „Jedenfalls noch nicht!“
„Oh … ich verstehe“, nickte Gunda, „obwohl … wir sind doch gar nicht sicher, ob dies der richtige Hof ist oder … oder weißt du es?“
Livia atmete schwer und sog zugleich jeden Anblick ihrer Umgebung, jedes Detail voller Verzweiflung in sich auf. Sie konnte den Hof schon sehen, jedenfalls ein paar seiner Gebäude. Vor ihr lag das Haupthaus. Es war ein Fachwerkgebäude mit schwarzen Balken, roten Backsteinen, weißen Fenstern und dunklen Dachziegeln. Mittendrin prangte eine riesige mehrflügelige Holztür, die ein wenig zurücklag und mit vielen Fenstern ausgestattet war. Wahrscheinlich ersetzte sie das Scheunentor. Links und rechts befanden sich die Nebengebäude und Stallungen. Eine Schubkarre stand herum, ein paar Hühner streunten über den Hof. Aber Livia hatte keine Ahnung, gar keine Ahnung, ob dies ihr Elternhaus war!
Manfred schaltete den Motor aus. Die plötzliche Stille legte sich wie eine schwere Decke über Livias Gemüt. Sie erinnerte sich nicht. Sie erinnerte sich nicht!
„Vielleicht ist es der falsche Hof …“, erriet Gunda ihre Gedanken.
Aber da öffnete sich die Haupttür und eine Frau trat heraus. Sie schien jemanden zu erwarten, jedenfalls sah sie sich suchend um, entdeckte den Wagen und kam langsam näher.
Livia starrte sie an und wurde zugleich immer kleiner auf ihrem Sitzplatz. Sie kannte diese Frau nicht!
„Ich steig mal aus“, sagte Gunda, öffnete die Beifahrertür und trat aus dem Wagen. „Entschuldigung“, rief sie der Frau zu, die vom Alter her durchaus Livias Mutter hätte sein können. Sie war eine schlanke, hochgewachsene Frau von vielleicht Anfang fünfzig und trug einen weiten dunklen Rock, der zum Teil von einer hellen Schürze verdeckt war, sowie eine helle Bluse mit dunklen Streifen. Ihr Haar war dunkel, hatte aber schon einen erheblichen weißen Anteil und war zu
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