Als gaebe es kein Gestern
Profs sind da anderer Ansicht“, fauchte Jan und stand auf. „Und meine Noten ebenfalls. Aber das interessiert euch ja eh nicht.“ Dann wandte er sich noch einmal Livia zu. „Krieg ich ’ne Antwort?“
Livia starrte ihren Bruder aus großen Augen an, sagte aber nichts. Sie war so überladen mit Eindrücken und Gefühlen, dass sie überhaupt nicht mehr sprechen konnte.
„Typisch“, sagte Jan abfällig und schob seinen Stuhl zurück. „Ruft mich zum Abendessen, wenn ihr Lust habt. Ich geh ein bisschen lernen.“ Kurz darauf war er verschwunden.
Die anderen blieben ein bisschen sprachlos zurück.
Dann erhob sich Manfred und sagte: „So leid es mir tut, aber ich glaube …“ Er sah Gunda an. „Was meinst du?“
Gunda stand ebenfalls auf. „Wir müssen dringend zurück nach Hause. Sonst wird es einfach zu spät …“ Sie warf Livia einen fragenden Blick zu.
„Ich bring euch raus“, sagte diese.
Nachdem sich Herr und Frau Cordes angemessen und voller Dankesworte von Gunda und Manfred verabschiedet hatten, folgte Livia den beiden in Richtung Pkw.
Als sie außer Hörweite waren, fragte Gunda: „Und?“
Livia seufzte tief. „Ich weiß auch nicht … Bin ich vom Regen in die Traufe gekommen?“
Gunda lachte auf. „Ehrlich gesagt, das hab ich mich auch ein paarmal gefragt.“ Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. „Was du jetzt machst, ist deine Entscheidung.“ Sie hatten jetzt den Wagen erreicht und blieben stehen. „Aber du weißt, dass wir ein Gästezimmer haben …“
„Hör auf“, unterbrach Livia sie. „Euer Haus liegt direkt neben Arvins. Wie soll das gehen?“
„Keine Ahnung“, seufzte Gunda. „Aber wie soll das hier gehen?“
„Keine Ahnung. Aber ich denke … ich denke, ich sollte es rausfinden.“
Gunda atmete ganz tief durch. „Das ist eine gute Entscheidung.“ Dann nahm sie Livia in den Arm. „Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst, okay? Und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit. Versprochen?“
„Versprochen“, nickte Livia.
„Also dann …“ Gunda zögerte einen Moment lang, holte tief Luft und sagte schließlich mit fester Stimme: „Also dann, Angelika.“
Livias Blick verfinsterte sich. Sie war heute schon mehrfach Angelika genannt worden. Und aus dem Mund ihres Bruders und ihrer Eltern erschien ihr das auch in Ordnung. Aber bei Gunda … „Bitte nenn mich nicht so“, hörte sie sich sagen.
Gunda sah ihr ernst ins Gesicht. „Warum nicht?“
Livia musste einen Moment lang darüber nachdenken. „Vielleicht … weil ich noch nicht weiß, ob ich Angelika sein will …“
„Hast du denn eine Wahl?“, fragte Gunda.
Livia atmete einmal tief durch, wandte den Kopf und warf einen Blick auf den Bauernhof, auf dem sie anscheinend aufgewachsen war. „Die Frage steht nicht zum ersten Mal im Raum …“, sagte sie zögerlich.
Kapitel 45
Als Livia ins Haus zurückkehrte, war ihre Mutter gerade dabei, den Kaffeetisch abzuräumen. Livia gesellte sich wie selbstverständlich zu ihr, nahm einen Stapel Geschirr in die linke Hand und wollte sich damit auf den Weg in die Küche machen.
„Nimmst du noch die Kaffeekanne?“, bat ihre Mutter sie auf Platt. Mit Gunda und Manfred schien auch die hochdeutsche Sprache den Hof verlassen zu haben. Livia starrte sie entgeistert an. Hatte sie denn nicht gehört, was sie ihr erklärt hatte? „Du … du weißt doch“, stammelte sie und sah auf die drei Teller, die Unterrtasse und die Tasse, die sich in ihrer linken Hand befanden und ohnehin schon nicht ganz leicht zu transportieren waren, „meine rechte Hand …“
„Mir scheint, du hast dich in letzter Zeit ein bisschen zu sehr auf deine Schwächen konzentriert“, meinte Inge Cordes. „Was man nicht trainiert, kann auch nicht besser werden.“
„Ich … ich hab aber trainiert“, protestierte Livia. „Ich war monatelang in der Reha und hab –“
„Reha“, sagte ihre Mutter abfällig, „das kann ich mir lebhaft vorstellen.“ Sie veränderte ihre Stimmlage und sagte – zur Abwechslung mal auf Hochdeutsch, dafür aber in einem monotonen Singsang: „So und jetzt ballen Sie die rechte Hand zur Faust … Prima gemacht!“ Dann schüttelte sie den Kopf, nahm wieder einen normalen Tonfall an und fuhr auf Platt fort: „Das ist in meinen Augen keine Therapie. Arbeit, das ist Therapie. Je mehr man arbeitet, desto besser gehorchen einem die Glieder. Und deshalb …“ – sie griff nach der Kaffeekanne, in der sich nur noch eine Pfütze Kaffee befand, und drückte sie Livia
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