Als gaebe es kein Gestern
paarmal platschte eine Kartoffel ins Wasser, dann fragte Jan ganz unvermittelt: „Und jetzt?“
Livia sah ihn an. „Hm?“
„Was wird jetzt aus dir?“, konkretisierte Jan seine Frage. „Ich meine … hast du dich schon entschieden, ob du wieder in deine alte Rolle schlüpfst?“
Livia starrte ihn an. Dann sagte sie langsam: „Du meinst … die Rolle der gehorsamen Tochter?“
Auf Jans Gesicht bildete sich ein zufriedenes Grinsen. „Genau die!“ Aber in seiner Begeisterung passte er einen Moment lang nicht richtig auf, rutschte mit dem Messer ab und landete damit in der Innenfläche seiner Hand. „Mist“, fluchte er, warf Kartoffel und Schäler auf den Tisch und hechtete hinüber zur Arbeitsplatte, wo eine Küchenrolle stand. Er riss ein Blatt davon ab und stillte damit die Blutung.
„Geht’s?“, erkundigte sich Livia besorgt.
Jan grummelte irgendetwas und tupfte auf seiner Verletzung herum. Livia konnte inzwischen erkennen, dass sich das Papiertuch nur geringfügig rot gefärbt hatte, und machte sich nicht allzu große Sorgen.
„Sag jetzt nicht, dass ich alleine weitermachen muss.“
Jan seufzte tief, öffnete eine Schublade und holte ein Pflaster daraus hervor. Damit kehrte er zu Livia zurück. „Wenn du mich anständig verarztest, mach ich weiter“, versprach er.
Livia entfernte die Abdeckung der Klebeflächen, nahm Jans Hand und befestigte dann das Pflaster. Während sie noch damit beschäftigt war, fragte sie wie beiläufig: „Und du meinst, ich habe die Wahl?“
Jan sah sie nachdenklich an. „Man hat immer die Wahl“, sagte er ernst. „Und du hast sie heute mehr als jemals zuvor.“
„Warum?“
„Na, weil du sie erkennst!“, sagte er leidenschaftlich. „Und das hast du früher nie getan! Wirklich, ich … ich kann nicht fassen, wie sehr du dich verändert hast!“
❧
Jan hatte gut reden. Man hat immer die Wahl … Super. Aber war nicht die entscheidende Frage, zwischen welchen Alternativen man wählen konnte?
Dieser Hof hier und diese Familie war alles, was sie hatte! Hier hatte sie Eltern, eine Identität, eine Aufgabe … Wenn sie das aufgab, blieb ihr überhaupt nichts! Kein Job, keine Freunde, nicht einmal ein Dach über dem Kopf.
Und das nannte Jan dann „Wahl“?
Gedanken wie diese schwirrten durch Livias Kopf und raubten ihr den Appetit auf das Mittagessen. Besonders die Kartoffeln schmeckten heute seltsam …
Als die Mahlzeit beendet war, verabschiedete sich Livia zu einem kleinen Spaziergang, auf den sie Nellie mitnahm. Obwohl es draußen nieselte, taten ihr die frische Luft und die Bewegung gut. Sie wandte sich, so gut es ging, von jeder Zivilisation ab und hielt stattdessen auf Felder und Wiesen zu. Als aus Straßen Wege wurden, nahm sie Nellie von der Leine und sah ihr dabei zu, wie sie begeistert und unbeschwert herumtobte.
Irgendwie hatten es Hunde gut. Sie mussten keine Entscheidungen treffen und konnten einfach das Leben genießen.
Sie hingegen …
Das eigentliche Problem hieß Henning. Sie konnte sich schon vorstellen, auf dem Hof zu bleiben und ihre Eltern zu unterstützen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit Henning zusammenzuleben. Objektiv betrachtet, war er eigentlich ganz nett. Aber wenn sie sich ihre Zukunft mit ihm ausmalte, sah sie sich auf einem Sofa sitzen und Äpfel schälen, während im Fernsehen ein Fußballspiel lief …
Sie schauderte und rief nach Nellie, die weit zurückgeblieben war und in irgendeinem Erdloch scharrte. Jetzt sah sie zwar auf, blieb aber immer noch abwartend stehen. „Komm her!“, befahl Livia ein zweites Mal, woraufhin der Hund gehorsam auf sie zustürmte.
Nein, Henning kam nicht infrage. Schon der Gedanke, ihn zu berühren oder gar zu küssen, ekelte sie an. Vielleicht hatte sie das früher anders gesehen. Früher, bevor sie Arvin kennengelernt hatte, bevor sie wusste, welche Alternativen es gab …
❧
Auf dem Rückweg vom Spaziergang näherte sich Livia dem Hof aus einer komplett anderen Richtung. Dabei kam sie an einem Fleckchen Erde vorbei, das ihr vorher noch nicht begegnet war. Es lag nicht weit vom Haus entfernt und wurde ganz offensichtlich für den Anbau von Gemüse genutzt. Jedenfalls wirkte es, als wäre es erst kürzlich umgegraben worden. Der größte Teil lag brach, eine Ecke war mit Schnittlauch und Petersilie bewachsen, Kraut oder Gras gab es nicht. Jedenfalls nicht hier vorne. Ein Stück weiter hinten sah es ein bisschen anders aus. Hier gab es ein rechteckiges Stück Erde, das in
Weitere Kostenlose Bücher