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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Winkelmann
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denn Zeit?“
    „Hm?“
    Sie konnten die Unterhaltung nicht zu Ende führen, weil jetzt die Orgel zu spielen begann. Kurz darauf ging der Pastor nach vorne. Er war schon um die fünfzig und trug einen dunklen Vollbart. In Kombination mit dem schwarzen Talar wirkte er ziemlich ehrwürdig.
    Es begann ein wechselseitiger Singsang zwischen Pastor und Gemeinde, den Livia sehr zu ihrem eigenen Erstaunen sowohl von der Melodie als auch vom Text her mitsingen konnte. Anscheinend war sie in der Vergangenheit recht häufig im Gottesdienst gewesen. Am meisten aber erstaunte es sie, dass sie sich daran erinnerte!
    Nach Gebet und Schriftlesung begann die Predigt. Darin ging es um einen Zöllner namens Zachäus.
    Hatte sich Livia am Anfang noch auf ihrem Sitzplatz zurückgelehnt und auf eine ordentliche Portion Langeweile eingestellt, beugte sie sich im Verlauf der Predigt immer weiter vor. Man sah ihr an, dass ihr Interesse geweckt war.
    Der Pastor hatte aber auch einen sehr lebendigen und ausdrucksstarken Erzählstil. Oder war es das Thema? Die Tatsache, dass sie sich ein Stück weit mit diesem Zachäus identifizieren konnte? Auf alle Fälle war er ein unauffälliger Typ. Er hatte einen Beruf, den niemand schätzte, und war zu allem Überfluss auch noch klein, ein Mensch eben, den alle übersahen. So wie Livia …
    Dieser Zachäus hatte von Jesus gehört. Sein Interesse war geweckt worden. Und was tat er?
    Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen, denn dort sollte er durchkommen.
    Livia rutschte noch ein bisschen weiter nach vorne und stützte sich mit ihren Händen am kühlen, glatten Holz der vorderen Sitzbank ab. Der Typ war allen Ernstes auf einen Baum geklettert! Er hatte sich quasi zum Affen gemacht!
    Und was tat Jesus?
    Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren.
    Livia konnte es nicht so recht fassen. Hatte sich dieser Jesus bei einem kleinen Zöllner eingeladen, der auf einem Baum saß?
    Auch der Pastor schien diese Stelle beachtlich zu finden, denn er widmete den Rest seiner Predigt der These, dass Jesus in das Verborgene sieht, jeden Menschen ganz genau kennt und ihm begegnen möchte.
    Livia runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. Irgendetwas ärgerte sie. War es vielleicht die Tatsache, dass Gott ihr, Livia, noch nie begegnet war? Sie ballte ihre rechte Hand, so gut es eben ging, zur Faust. Das Defizit an Kraft, das sie dort spürte, war für sie ein Sinnbild für all die Dinge, die ihr passiert waren, die Unfälle, die sinnlose Zeit bei Arvin … Gut, Arvin hatte an Gott geglaubt, aber ihr, Livia, war Gott bei dieser Gelegenheit nicht begegnet! Oder? Sie dachte an Enno zurück und daran, wie sie ihm entkommen war … Damals hatte sie verzweifelt zu Gott gebetet. Und sie war mit dem Leben davongekommen!
    „Glaubst du das?“, flüsterte sie zu Henning hinüber. „Glaubst du, dass Jesus einen kennt?“
    „Ach, das sind doch nur Wunschträume“, winkte dieser ab. „Die Menschen sind einfach zu feige, der Realität ins Auge zu sehen.“
    „Der Realität?“
    „Ja, der Tatsache, dass wir unsere Existenz dem Zufall verdanken. Evolution, du weißt schon …“ Er zuckte die Achseln. „Ich für meinen Teil hab mich damit abgefunden. Und ich versuche, das Beste daraus zu machen. So einfach ist das.“
    Einfach?
    „Hast du gehört, wie Werder gestern gespielt hat?“, wechselte Henning das Thema.
    Zufällig nicht. „Wie denn?“, fragte Livia höflich.
    „Drei zu eins“, strahlte Henning.
    „Aber du … du warst gar nicht im Stadion“, wunderte sich Livia. Ihr Herz tat einen kleinen Sprung. Sollte Henning etwa ihretwegen ein Spiel versäumt haben?
    „Es war ein Auswärtsspiel … in München“, erläuterte Henning.
    Livias Schultern sackten ein Stück ab. „Ach so.“
    „Drei zu eins gegen Bayern“, schwärmte Henning. „Weißt du, was das bedeutet?“
    Livia schüttelte den Kopf.
    „Es bedeutet, dass wir wieder auf dem Weg an die Spitze sind!“
    So einfach war das Leben eben …
    ❧
    Livia bekam den Rest der Predigt nicht mit, weil sie Hennings Fußballgöttern lauschen musste. Dementsprechend schlecht war ihre Laune, als der Gottesdienst zu Ende war.
    Als sie ihren Eltern in Richtung Ausgang folgte, stellte sie fest, dass sich der Pfarrer in der Nähe der Tür postiert hatte und jedem seiner Schäfchen die Hand schüttelte.
    Als Livia an der Reihe war,

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