Als gaebe es kein Gestern
Haupttür.
„Livia!“, entfuhr es ihr, kurz darauf klebte ihre Schwägerin bereits in ihrem Arm und schluchzte hemmungslos. „Bettina!“, krächzte Karen erschrocken. „Ist was passiert?“ Die Frage war überflüssig. Wenn ihre Kollegin mit Livia im Schlepptau hier erschien, war bestimmt etwas passiert. „Hatte sie wieder Albträume?“
Bettina zuckte schlicht die Achseln.
Daraufhin wandte sich Karen wieder Livia zu. Sie strich ihr beruhigend über das wirre Haar und murmelte: „Alles ist gut, mein Schatz. Alles ist gut.“ Es dauerte lange, bis das Schluchzen allmählich verebbte. „Hast du schlecht geträumt?“, fragte Karen erneut.
„Es war kein Traum!“, sagte Livia und umklammerte Karen noch stärker. „Da war ein Mann.“
Karens Blick wanderte zu Bettina hinüber, aber die schüttelte nur den Kopf.
„Du hast geträumt, Livia“, schlussfolgerte Karen.
Livia schüttelte so heftig mit dem Kopf, dass sie Karen einen leichten Kinnhaken verpasste. „Ein Mann …“, wiederholte sie. „Er wollte mir was tun.“
Karen zog die Stirn in Falten. „Ein Mann?“, wiederholte sie. „Und was hat er gemacht?“
„Ich weiß nicht!“ Livia schluchzte erneut auf. „Da war dieses Edelweiß. Ich wollte es pflücken, aber dann … dann ist es mir plötzlich ins Gesicht gesprungen. Und ich bin daraufhin abgestürzt!“
Karens Gesichtsausdruck entspannte sich. „Ein Traum“, flüsterte sie.
„Nein!“, widersprach Livia. „Ich hab sein Stöhnen gehört. Und er ist weggerannt!“
„Livia!“, beschwor Karen ihre Schwägerin. „Du weißt doch, wie heftig du immer träumst. Und es ist mitten in der Nacht. Du bist bestimmt noch gar nicht richtig wach!“
„Dieses Mal war es anders – jedenfalls zum Schluss. Das Licht hat mich geblendet. Außerdem konnte ich seine Gegenwart fühlen. Ich …“ Karen konnte spüren, wie Livia zitterte. „Ich spüre sie immer noch!“
Karen seufzte. „Kommt erst mal rein. Ich hab ein CTG zu überwachen.“
„Ich muss dringend zurück“, sagte Schwester Bettina und lächelte entschuldigend.
Karen nickte. „Verstehe schon. Ich kümmere mich um sie.“ Mit diesen Worten zog sie Livia in den Flur des Kreissaalbereichs. Sie brachte sie ins Schwesternzimmer, platzierte sie auf einem Stuhl, kniete sich vor sie hin und sah ihr fest in die Augen. „Hör zu. Ich muss mal eben nach meiner Patientin sehen. Aber ich bin gleich zurück. Bleib hier sitzen und versuch, ein bisschen wacher zu werden, okay?“
❧
Da saß sie nun im Schlafanzug auf einem Bürostuhl und zitterte wie Espenlaub. Abgesehen davon, dass ihr tatsächlich kalt war, hatte die Angst sie immer noch fest im Griff. Es war, als wäre sie der Gefahr in Person begegnet. Das Gefühl war unbestimmt, aber dafür umso stärker und bedrohlicher. Irgendjemand hatte versucht, sie umzubringen. Und er würde es wieder tun.
Sie schauderte. Drehte sie jetzt völlig durch?
Ein Traum, schien Karen erneut zu sagen.
Aber Livia schüttelte ein weiteres Mal ganz heftig den Kopf. Kein Traum. Da war sie sich ganz sicher. Sie kannte diese Albträume. Und sie führten immer aus der Realität heraus, niemals in sie hinein. Außerdem konnte sie sich an jedes Detail erinnern. Das Aufstöhnen, seine Schritte, das helle Licht des Flures, die eilige Flucht. Jemand war in ihrem Zimmer gewesen!
Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Der Felsen, das Edelweiß … ein Traum. Die fremde Gegenwart, die panische Flucht … Wirklichkeit. Das Gefühl, nicht mehr atmen zu können …?
Ein Gefühl der Beklemmung baute sich auf.
Livia legte ihre Hand auf ihren Brustkorb und versuchte, ganz tief durchzuatmen. Das Ergebnis waren eine paar flache, hektische Atemzüge. Mehr war nicht möglich. Ein neuer Schub Angst lag wie ein Gewicht auf ihrer Lunge. „Karen“, wimmerte sie und kämpfte mit den Tränen.
„Ich bin ja hier“, antwortete Karen schon vom Flur aus. Gleich darauf eilte Karen an ihre Seite. Sie nahm Livia ganz fest in die Arme.
Livia vergrub ihr Gesicht in Karens Bauch. Der Stoff der Schwesternkluft fühlte sich glatt und kühl an ihrer Wange an. „Es war kein Traum“, schluchzte sie. „Es war anders als sonst.“
Karen versuchte, ein paar Millimeter vor ihr zurückzuweichen. Der zusätzliche Druck in ihrer Magengegend verstärkte die ohnehin schon vorhandene Übelkeit. „Am besten, du legst dich erst mal hin und schläfst dich richtig aus“, sagte sie sanft. „Morgen sieht die Welt schon wieder ganz
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