Als gaebe es kein Gestern
beantwortet hast.“
Arvin wandte den Kopf und deutete mit einem Nicken in eine ganz bestimmte Richtung. Karens Blick fiel auf die Schublade, in der schon ihre Eltern die Post zwischengelagert hatten. Sie erhob sich. Der Stuhl scharrte erneut über den Boden. Sie ging zur Schublade und öffnete sie. Erstaunlicherweise lag Livias Brief obenauf. Sie nahm ihn heraus. „Du hast ihn überhaupt nicht aufgemacht?“, entrüstete sich Karen. „Sie schreibt dir einen Brief und du liest ihn nicht mal?“
„Ich hatte keine Zeit“, rechtfertigte sich Arvin. „Außerdem kann ich mir denken, was drinsteht. Und wie hätte ich darauf reagieren sollen?“ Er setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und sagte mit übertrieben sanfter Stimme: „Schön, dass du bald wieder zu meinem Leben gehörst, Livia. Ich hatte dich schon so vermisst …“ Sein Lächeln erstarb. „Ich bitte dich, Karen!“
Aber Karen hatte dieses Mal wenig Verständnis. „Keiner hat von dir verlangt, dass du sie belügst, Arvin. Ich frage mich allerdings, wie du dir das Zusammenleben mit ihr vorstellst. Willst du in den Keller ziehen oder was? Wenn sie hier wohnt, wirst du wohl auch mal mit ihr reden müssen. Und vielleicht würde es euch beiden helfen, wenn ihr beizeiten damit anfangt.“
Arvin antwortete nicht, sondern wandte sich mit finsterem Blick wieder seiner Suppe zu.
Karen hingegen öffnete den Brief. „Du hast doch nichts dagegen …?!“
Da Arvin nicht antwortete, begann sie zu lesen. Als sie damit fertig war, standen Tränen in ihren Augen. „Sie ist furchtbar tapfer“, sagte sie mit belegter Stimme. „Obwohl sie weiß, dass du sie ablehnst, ist ihr Brief freundlich und kooperativ. Gib ihr doch eine Chance, Arvin!“
Arvins Blick verhärtete sich noch mehr. „Alle Jahre wieder oder was?“, fauchte er.
Karen seufzte tief. „Beantworte wenigstens ihre Frage“, bat sie.
Arvin blickte auf. „Was für eine Frage?“
„Sie ist immer noch nicht davon überzeugt, dass sie wirklich Livia ist“, klärte Karen ihn auf. „Ich hab ihr erzählt, dass man Unfallopfer anhand der Zähne identifizieren kann. Jetzt möchte sie wissen, zu welchem Zahnarzt sie gegangen ist.“
Arvin sah seine Schwester entgeistert an. „Wie jetzt … sie ist nicht Livia? Aber was … ich meine … wer soll sie denn sonst sein?“
„Sie hat keine Ähnlichkeit mit der alten Livia“, sagte Karen und verlieh damit einmal mehr ihren eigenen Zweifeln Ausdruck. Bei Livia hatte sie sich diese nicht anmerken lassen. Trotzdem waren sie niemals ganz verschwunden … „Das hast du selbst gesagt!“
„Das ist lange her“, antwortete Arvin. Und dann erhob er sich, ging nun seinerseits zur Anrichte hinüber und kramte in der Briefeschublade herum. Kurz darauf holte er zwei Fotos daraus hervor. Eine Weile betrachtete er sie. Dann hielt er sie Karen hin. „Hier“, sagte er betont gelangweilt. „Vorher – nachher.“
Karen nahm die Bilder entgegen und hielt sie nebeneinander. „Das hier ist erst zwei Wochen alt“, sagte sie und deutete auf eines der beiden Bilder.
Arvin setzte einen vorwurfsvollen Blick auf. „Du hast es mir förmlich aufgedrängt. Wahrscheinlich hast du gehofft, dass ich mich aufs Neue in sie verliebe.“ Er lachte zynisch. „Das ist leider komplett gescheitert.“
Karens Blick verfinsterte sich. „Ich bin viel realistischer, als du glaubst“, schmollte sie. Sie hatte allerdings gehofft, dass er Livia weniger abstoßend finden und zumindest mal besuchen würde … Sie betrachtete das andere Bild. „Wie alt ist das hier?“
„Zwei Jahre, drei Monate und acht Tage“, seufzte Arvin.
Karen blickte erstaunt zu ihm auf. „Du und dein Zahlengedächtnis …“, bemerkte sie kopfschüttelnd. „Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen.“
„Ich finde schon, dass die Bilder Ähnlichkeit miteinander haben.“
„Das liegt an den Schönheitschirurgen“, überlegte Karen laut. „Sie hatten dieses Foto und –“
„Spinnst du jetzt völlig?“, fiel Arvin ihr ins Wort. „Willst du mir allen Ernstes erklären, dass sie eine Fremde ist, die nur durch Zufall in meinem Auto unterwegs war?“
Karen zuckte die Achseln. „Ich weiß, es klingt verrückt –“
„Verrückt?“, entfuhr es Arvin. „Es weckt sogar Zweifel an deinem Geisteszustand!“ Er schüttelte den Kopf. „Andererseits …“ Er tat so, als würde er überlegen. „Also wenn du bei dieser Vermutung bleiben willst, hast du meine volle Unterstützung, Karen. Ja, genau! Wenn ich
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