Als gaebe es kein Gestern
gefangen hielt.
Livia wehrte sich mit den Händen, erreichte aber nur, dass sie den Halt verlor und in die Tiefe stürzte. Der Felsen zog an ihr vorüber, und sie verlor das Gefühl dafür, wo oben und unten war. Allerdings spürte sie noch, dass sie keine Luft mehr bekam. Sie konnte nicht atmen!
Lichtblitze zuckten vor ihren Augen und ein nicht zu beschreibendes Gefühl von Panik ergriff sie. In Todesangst streckte sie ihre Hände aus, um zumindest den Felsen zu erreichen und sich daran festzuhalten. Im nächsten Moment umklammerte sie etwas und versuchte erneut, die Blume aus ihrem Gesicht zu entfernen.
Ein seltsames Geräusch, gleich einem Stöhnen, ertönte.
Sie war plötzlich frei, ruderte herum und polterte mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.
Gleich darauf tat sie einen Atemzug, der tiefer und verzweifelter nicht hätte ausfallen können. Dann noch einen Atemzug.
Das Gefühl einer fremden Gegenwart. Gefahr .
Dabei musste sie tot sein! Sie war abgestürzt!
Sie riss die Augen auf. Und wirklich … alles war dunkel!
Aber dann schwere Schritte, ein plötzlicher Lichtstrahl, der Livia blendete, eine Tür, die ins Schloss fiel, weitere Schritte, die sich schnell entfernten, dann tiefe, gespenstische
Stille.
Livia begann zu wimmern, tastete mit einer Hand umher und wusste weder, wo sie war, noch, was das alles zu bedeuten hatte. Sie kam nur langsam zu sich. Die Gegenstände, die ihre Hände ertasteten, lösten keine Erinnerung in ihr aus. Sie fühlten sich kalt und hart an, aber auch glatt, ganz und gar nicht wie ein Felsen …
„Karen“, hauchte sie hilflos. Und dann brach die ganze Panik wie ein Vulkan aus ihr hervor und sie brüllte aus voller Kehle: „Karen!“
Gleich darauf waren erneut Schritte zu hören. Wieder öffnete sich eine Tür. Dieses Mal war Livia zumindest so weit vorbereitet, dass sie rechtzeitig die Augen schließen konnte.
„Frau Scholl“, sagte eine Stimme, die Livia schon mal gehört hatte und die ein wenig besorgt klang. Dann berührte etwas ihren Arm. „Haben Sie sich verletzt?“
„Da war jemand“, flüsterte Livia.
„Sie sind aus dem Bett gefallen“, sagte die Stimme. „Kommen Sie, ich helfe Ihnen wieder hoch.“
„Da war jemand“, wiederholte Livia und öffnete ihre Augen. Die Tür … das Licht vom Flur … die Schritte … Das alles hatte sie eben schon einmal erlebt!
„Ich bin es doch – Schwester Bettina! Alles ist in Ordnung!“
„Ein Mann …“, flüsterte Livia und dachte an das Geräusch, das einem Stöhnen geglichen hatte. Ein tiefer, männlicher Klang. „Er wollte mir was tun!“ Sie wusste nicht, wie oder weshalb, sie wusste nur, dass es so war. Und dann schluchzte sie auf: „Ich … will … zu Karen!“
„Frau Scholl“, beruhigte Schwester Bettina ihre Patientin. „Sie haben schlecht geträumt. Bitte beruhigen Sie sich!“
„Ich will zu Karen!“, beharrte Livia und versuchte sich hochzurappeln.
„Aber Ihre Schwägerin hat Nachtdienst, genau wie ich! Und soweit ich weiß, hat sie doch versprochen, gleich morgen früh vorbeizukommen!“
„Zu Karen“, schnaufte Livia und zog sich am Bett in die Höhe. Als sie wieder auf ihren Beinen stand, versuchte Schwester Bettina, die Gelegenheit zu nutzen und Livia wie selbstverständlich wieder ins Bett zu verfrachten. Dabei hatte sie allerdings nicht mit dem Widerstand ihrer Patientin gerechnet. Livia schubste die Schwester einfach beiseite und stolperte auf das Licht zu.
„Frau Scholl!“, beschwerte sich Schwester Bettina. „Es ist mitten in der Nacht!“
Aber Livia hörte nicht auf sie. Sie erreichte den Flur und lief geradewegs in Richtung Fahrstuhl …
❧
Karens Nachtschicht war bislang erfreulich ruhig verlaufen.
Sie hatte eine junge Frau am CTG, doch sah es nicht so aus, als würde die Geburt tatsächlich in Gang kommen. Ansonsten war nichts los im Kreissaal.
Karen war darüber erleichtert. In letzter Zeit vertrug sie die Wechsel von Tag- und Nachtschicht nicht mehr besonders gut. Meist spielte ihr Magen verrückt. Auch jetzt verspürte sie ein Völlegefühl, das sich von Zeit zu Zeit in Übelkeit verwandelte und anschließend wieder beruhigte.
Es klingelte. Ein schrilles, durchdringendes Geräusch, das man auch inmitten von Presswehen nicht überhören konnte.
Karen zuckte zusammen. Sie wusste einfach, dass sie heute keine besonders guten Leistungen erbringen konnte. Ein wenig widerwillig erhob sie sich, verließ das Schwesternzimmer, durchquerte den Flur und öffnete die
Weitere Kostenlose Bücher