Als gaebe es kein Gestern
anders
aus.“
„Du glaubst mir nicht“, schlussfolgerte Livia. Es war eine Feststellung, nicht mehr. Und sie konnte Karen deswegen nicht einmal böse sein. „Du denkst, dass ich immer noch nicht ganz richtig bin im Kopf.“
Karen seufzte tief. „Du hast Schlimmes durchgemacht, Livia. Und du hast ständig solche Albträume. Was erwartest du?“
Livia nickte und sah voller Liebe zu Karen auf. „Du sagst mir immer die Wahrheit, Karen.“
Karen musste schlucken, hielt Livias Blick aber tapfer stand. Sie musste an die Sache mit dem Zahnarzt denken. Das hatte sie Livia verschwiegen. Und es sorgte auch jetzt für den Hauch eines Zweifels. Was, wenn wirklich jemand in Livias Zimmer gewesen war? Sie schauderte. Morgen, das nahm sie sich ganz fest vor, würde sie Livias Zimmer in Augenschein nehmen. „Schlaf erst mal. Morgen sehen wir weiter, okay?“
❧
Mit dem Morgengrauen kam das Ende von Karens Nachtschicht. Unglücklicherweise hieß das, dass sie Livia wecken musste. Ihr Schützling hatte im Kreissaal I auf einem der riesigen Betten geschlafen, die sonst nur für Geburten gebraucht wurden.
Karen öffnete die entsprechende Tür und betrat leise den Raum. Das Licht blieb ausgeschaltet, dafür ließ sie die Tür offen stehen. Auf diese Weise erhellte das gedämpfte Licht des Flures auch den Kreissaal ein wenig.
Livia lag eingerollt ganz am Kopfende des Bettes und schlief tief und fest. Ihr Gesicht zeigte in Richtung Tür. Karen setzte sich neben sie und betrachtete sie eine Weile. Wenn sie schlief, sah sie aus wie eine ganz normale Frau. Es gab so gut wie keine Narben mehr in ihrem Gesicht. Höchstens ein paar feine weiße Linien, die man nur bemerkte, wenn man genau hinsah. Und sie war hübsch! Nicht so schön wie vorher, aber durchaus hübsch. Ein ebenmäßiges Gesicht mit großen Augen und langen Wimpern, ein Mund, der etwas Verletzliches hatte.
„Livia“, flüsterte Karen und legte ihre Hand auf Livias Wange.
Livia stieß einen tiefen, wohligen Seufzer aus, rührte sich ein wenig und kam kurz danach wieder zur Ruhe.
Karen lächelte sanft und strich Livia über das wirre dunkle Haar. „Livia“, wiederholte sie etwas lauter. „Aufstehen.“
Dieses Mal gab Livia ein paar abwehrende Geräusche von sich und zog die Bettdecke höher.
Karen schüttelte missbilligend den Kopf. „Meine Nachtschicht ist zu Ende. Du musst wieder in dein Zimmer.“
Im nächsten Moment war Livia hellwach. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Karen an. „Ich gehe nicht zurück in mein Zimmer.“ Obwohl ihre Stimme noch rau und verschlafen klang, hatte Karen keinen Zweifel, dass sie diese Worte ernst meinte.
„Hab keine Angst, Livia“, beruhigte Karen sie. „Ich komm doch mit. Wir gehen gemeinsam dorthin.“
Livia setzte sich ruckartig auf. „Ich gehe nicht dorthin!“
Karen seufzte. „Wenn du willst, suchen wir alles ganz genau ab. Jeden Schrank und jede Ecke. Dann kannst du sicher sein, dass niemand mehr dort ist.“
„Ich – gehe – nicht – zurück – in mein Zimmer“, beharrte Livia. „Nie-mals!“
„Es war nur ein Traum“, sagte Karen hilflos.
Livias Blick wanderte in die Ferne. Karen konnte sehen, dass sie sich zu erinnern versuchte. „Ich weiß es nicht“, murmelte Livia schließlich. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. „Ich weiß es wirklich nicht. Im Kopf denke ich, dass ich geträumt haben könnte. Aber hier …“ – sie deutete auf ihre Magengegend – „hier fühlt es sich so an, als wäre es in Wirklichkeit passiert. Vielleicht …“ Sie zögerte, sprach es dann aber doch aus: „Vielleicht ticke ich wirklich nicht ganz richtig.“
Karen musste schlucken. Sie konnte nicht leugnen, dass sie gerade einen ähnlichen Gedanken gehabt hatte. „Nicht doch, Livia“, sagte sie. „Nach allem, was du durchgemacht hast, ist es normal, wenn dir Albträume Schwierigkeiten bereiten. Aber es ist auch wichtig, dass du dich diesen Erlebnissen stellst. Komm mit in dein Zimmer. Dann kannst du das Ganze am besten verarbeiten.“
Livias Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Ich sagte doch: Ich gehe nicht zurück in mein Zimmer.“
Ein Hauch von Ärger keimte in Karen auf. „Ich war die ganze Nacht auf den Beinen, Livia. Außerdem fühl ich mich nicht besonders. Ich muss schlafen. Ich kann dir nicht länger Gesellschaft leisten.“
„Ich würde dich nicht stören“, sagte Livia und probierte mal wieder ihren Hundeblick. „Im Gegenteil, ich könnte mich um Vanessa kümmern, während du
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