Als gaebe es kein Gestern
aber auch nicht schlecht“, entgegnete Vanessa und deutete auf Karens Stapel. Er war ungefähr halb so hoch wie ihrer.
„Nur ich hab noch kein einziges Paar“, seufzte Livia.
Vanessa schürzte die Lippen. „Also gut“, sagte sie gönnerhaft, „du kannst die beiden Äpfel behalten.“
„Jetzt will ich nicht mehr“, maulte Livia und drehte die beiden Karten wieder um. „Wer ist dran?“
„Ich!“, antwortete Vanessa und räumte in den nächsten Minuten mit Feuereifer sechs Pärchen vom Tisch. Währenddessen entwickelte sich Livias Laune deutlich sichtbar in Richtung Gefrierpunkt. Als Vanessa endlich einmal die falsche Karte aufgedeckt hatte, fragte sie: „Wo sind eigentlich die Kekse?“
„Alle“, sagte Karen.
Vanessa ließ sich auf die Couch fallen und hampelte gelangweilt hin und her. „Kannst du noch welche holen?“
„Nein“, lautete die knappe Antwort ihrer Mutter.
„Und warum nicht?“, explodierte Vanessa. „Ich hab nur zwei Kekse abgekriegt!“
„Ich könnte uns noch einen Apfel schälen …“
„Ich will aber keinen Apfel! Ich will Kekse!“
„Und ich sagte Nein. Du kannst morgen wieder Kekse bekommen.“
„Aber das ist gemein. Und es ist nur wegen Livia. Du gibst mir keine Kekse, weil Livia immer alle wegfuttert!“
Livias Blick verfinsterte sich noch mehr. Ihr war nicht klar gewesen, dass sie so genau beobachtet wurde.
Sie stand auf. „Ich will nach Hause!“
Karen seufzte tief. „Kindermund tut Wahrheit kund. So ist das nun mal.“
„Ich kann auch zu Fuß gehen“, knurrte Livia und bewegte sich in Richtung Flur.
„Jetzt warte doch mal!“
Aber Livia wartete nicht. Sie erreichte den Flur und begann, ihre Jacke anzuziehen.
Karen eilte ihr nach. „Was hast du denn nur für eine schlechte Laune?“, erkundigte sie sich vorsichtig. „Wir hatten doch einen netten Nachmittag, oder etwa nicht?“
Livia drehte Karen den Rücken zu und verschränkte abwehrend die Hände vor der Brust. Wie ein schmollendes Kind stand sie jetzt im Flur.
„Livia“, ermahnte Karen sie, „jetzt benimm dich doch nicht so kindisch.“
„Und warum nicht?“, brach es aus Livia hervor. „Was macht es für einen Unterschied, wie ich mich benehme? Hier nimmt mich doch sowieso niemand für voll! Vanessa nicht, du nicht und Arvin sowieso nicht.“
„Also daher weht der Wind“, sagte Karen und streichelte sanft über Livias Haar. „Du hast schlechte Laune, weil deine Pläne nicht funktionieren.“
„Er … ist einfach ein Scheusal“, krächzte Livia.
Karen hob alarmiert die Augenbrauen. „Was macht er denn?“
„Gar nichts“, jammerte Livia. „Das ist es ja. Die Weintrauben … die futtert er und … die Lakritze auch. Aber das ist dann auch schon alles!“
„Begegnet ihr euch denn mal?“
Livia schüttelte den Kopf. „Aber ich schreibe ihm Nachrichten“, gestand sie mit piepsiger Stimme. „Inzwischen täglich.“
„Ach wirklich?“, wunderte sich Karen. „Und was schreibst du ihm so?“
„Gestern habe ich ihn gebeten, das Altglas wegzubringen.“
„Und?“, fragte Karen gespannt. „Was hat er gemacht?“
„Er hat das Altglas weggebracht.“
Karen hob verblüfft die Augenbrauen. „Aber das ist doch … gut – oder nicht?“
„Nein, ist es nicht!“, rief Livia und wirbelte zu Karen herum. „Weil ich das Altglas auch allein wegbringen könnte! Deshalb! Was interessieren mich diese blöden Flaschen? Ich möchte, dass ein Gespräch zustande kommt! Aber das funktioniert nicht! Ich schreibe ihm lauter freundliche Worte und er mir kein einziges.“
„Vielleicht steht er nicht so auf Briefchen“, mutmaßte Karen.
Livia merkte auf. „Meinst du?“
„Also, mir hat er noch nie einen Brief geschrieben …“
„Echt nicht?“ Livia schöpfte neue Hoffnung. „Du glaubst, dass er auftaut, wenn ich persönlich mit ihm spreche?“
Das hab ich nicht gesagt , dachte Karen und sagte ein wenig zögerlich: „Möglicherweise.“
„Die Frage ist nur … wie ich das anstellen soll, ohne dass er wütend auf mich wird.“ Livia strich mit dem Finger über die Stelle an ihrer Stirn, an der sie kein Gefühl mehr hatte. „Schließlich hat er mir gesagt, dass ich mich von ihm fernhalten soll.“
„Eine Möglichkeit wüsste ich wohl …“, begann Karen.
Livia sah voller Hoffnung zu ihr herüber.
„Der Gottesdienst am Sonntagmorgen … ich hatte dir schon mal angeboten, dass du mitkommen könntest.“
„Was hat das denn jetzt mit Arvin zu tun?“, wunderte sich
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