Als gaebe es kein Gestern
Umständen nicht zu denken. Sie verzichtete gleich ganz darauf, zog sich eilig an und erstellte zunächst eine Einkaufsliste. Mehl und Zucker waren noch vorhanden, erforderlich waren also Butter, Wein, Äpfel, Haferflocken, gehackte Nüsse, Schokolade, Zimt, Milch, Eier, Vanillesoßenpulver, Puderzucker und Backpapier. Außerdem brauchte sie frische Weintrauben für Arvin.
Im Laden angekommen, lief zunächst alles wie am Schnürchen. Äpfel, Milch, Eier und Butter fanden fast wie von selbst den Weg in den Einkaufswagen. Kurz darauf fiel Livias Blick jedoch auf die Non-Food-Artikel. Die vielen verschiedenen Dinge faszinierten sie und lenkten sie von ihrer eigentlichen Aufgabe ab. Vor einem Haufen mit eingepackten Blusen blieb sie besonders lange stehen. Die Frauen auf den Bildern sahen ganz anders aus als sie selbst in ihrem Sweatshirt. Sie wollte auch so aussehen!
„Ich denke, Sie sollten sich besser Ihrem Einkaufszettel widmen“, sprach eine junge Frau Livia an.
Livia hatte Mühe, aus den Gesichtern der Blusenmodels wieder in die reale Welt zurückzufinden. Außerdem trug die junge Verkäuferin vor ihr ebenfalls eine Bluse …
„Ich bin heute Abend verabredet“, sagte Livia. „Und ich möchte auch eine Bluse anziehen.“
„Das können Sie ja“, nickte die junge Frau. Sie war zierlich und hatte feuerrote Haare. Auf ihrer weißen Bluse prangte der Name des Geschäfts, in dem sie sich befanden. „Am besten, Sie arbeiten zuerst Ihren Einkaufszettel ab, gehen dann nach Hause und ziehen sich um!“
„Ich hab aber keine Bluse“, wandte Livia ein.
Die junge Frau zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Sie haben bestimmt eine Bluse.“
Livia schüttelte energisch den Kopf. „Ich hab nur so was“, sagte sie und deutete auf das blaue Sweatshirt, das oben aus ihrer Jacke herausschaute.
„Hm“, machte die junge Frau und musterte Livia eine Weile. Dann wandte sie sich den Blusen zu, nahm eine nach der anderen zur Hand und wählte schließlich ein hellblaues Exemplar mit einer aufwendigen Blumenstickerei aus. „Achtundreißig“, sagte sie. „Das sollte Ihnen passen. Die Bluse ist nicht teuer. Möchten Sie sie kaufen?“
Livia nickte eifrig und begann über das ganze Gesicht zu strahlen. In null Komma nichts landete die Bluse in ihrem Einkaufswagen. Das Problem war allerdings, dass sie von nun an nur noch auf ihre Bluse schaute und kaum mehr in der Lage war, sich auf ihren Einkaufszettel zu konzentrieren. Wäre die junge Verkäuferin nicht gewesen, die sie durch den gesamten Laden begleitete, dann hätte sie es wohl nicht auf die Reihe bekommen. So aber ging alles glatt.
Erst auf dem Rückweg wurde Livia dann auch wieder bewusst, welch schwierige und vor allem zeitintensive Aufgabe vor ihr lag. Als sie zu Hause ankam, zwang sie sich, die Bluse erst einmal wegzulegen. Dann wandte sie sich der Herstellung des Teiges zu. Ohne größere Mühe verknetete sie Mehl, Butter, Wein und Salz und beförderte das Ganze in den Kühlschrank. Dann kümmerte sie sich um die Vanillesoße. Entgegen all ihren Befürchtungen klappte auch das auf Anhieb. Es kochte weder die Milch über noch bildeten sich Klumpen. Livias Brust schwoll vor Stolz ein wenig an. Sie hatte gar nicht zu hoffen gewagt, dass alles so problemlos funktionieren würde. Schließlich hatte sie seit ihrem Unfall noch nie allein gekocht. Mittags hatte sie meist Aufgewärmtes von Karen gegessen oder auch mal eine Fertigpizza.
In der Vanillesoße rührte Livia so lange herum, bis sie abgekühlt war, ohne eine Haut zu bilden.
Dann ging sie ins Wohnzimmer. Sie kramte eine Tischdecke, ein paar Kerzen und das gute Geschirr hervor und verlieh dem Esstisch auf diese Weise ein romantisches Ambiente.
Jetzt musste nur noch der Teig gelingen!
Zuerst aber waren die Äpfel an der Reihe. 750 g Äpfel, so stand es in dem Rezept, das waren exakt fünf Stück. Livia wusch sie zuerst und holte dann einen Sparschäler. Aber schon als sie diesen zum ersten Mal ansetzte, ahnte sie, dass das Schälen und Schneiden nicht gerade einfach werden würde. Sie hatte so etwas ja auch noch nie zuvor gemacht, außerdem hatte sie mit der immer noch nicht voll funktionsfähigen rechten Hand keine hundertprozentige Kontrolle über den Apfel. Und wie sollte sie das Messer mit links am besten ansetzen? Beim Erklären des Rezeptes hatte Karen irgendetwas von „immer vom Körper wegschneiden“ gesagt, aber als Livia diese Technik probierte, fiel ihr andauernd der Apfel aus der Hand.
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