Als gaebe es kein Gestern
Eindruck, als würde ihn etwas quälen … etwas Furchtbares. Vielleicht … vielleicht ist er gar nicht so gemein, wie er immer tut. Vielleicht ist er nur verweifelt oder furchtbar unglücklich oder … Ich weiß auch nicht.“ Sie drehte sich wieder zu Enno herum und sah ihm fast flehend in die Augen. „Du kennst ihn viel besser als ich. Was glaubst du?“
Ennos Blick war hart. „Solange ich Arvin kenne, war er immer nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Er schert sich um nichts und niemanden, nicht mal um seine Freunde. Schon gar nicht um mich oder dich!“
Livia schluckte schwer. Ein Teil von ihr dachte: Wusste ich’s doch! Ein anderer protestierte. War es möglich, dass Arvin sein Innerstes so erfolgreich verbarg, dass nicht einmal Enno es gesehen hatte? „Er besucht diese Kirche“, probierte sie schwach. „Das bedeutet doch, dass er zumindest auf der Suche nach etwas ist. Meinst du nicht?“
Enno seufzte, wandte sich den Stoff- und Heuresten zu und begann, sie mit dem Fuß zur Seite zu schieben. „Es ehrt dich ja, dass du das Gute in ihm sehen willst“, sagte er, „aber der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier. Wahrscheinlich hat er diesen Religionsfimmel von seinen Eltern geerbt. Seine Schwester ist ja auch davon infiziert worden.“
„Sie hält viel von ihm“, griff Livia das Thema auf.
„Mehr noch! Wenn du mich fragst, ist sie komplett in ihn vernarrt. Kein Wunder, dass sie ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Schutz nimmt.“ Enno hatte inzwischen einen kleinen Haufen gebildet, ließ von seiner Arbeit ab und ließ sich plumpsend aufs Sofa fallen.
„Dann glaubst du also, dass es Menschen gibt, die durch und durch schlecht sind?“, fragte Livia, während sie sich ebenfalls dem Sofa näherte.
Enno zuckte gleichgültig die Achseln. „Weiß ich doch nicht …“
Livia setzte sich neben ihn. „Aber wie wird man schlecht? Wird man schon so geboren? Oder ist das Leben daran schuld? Kann man überhaupt was dafür?“ Sie untermauerte ihre Frage mit einer ausgeprägten Gestik. „Was wiederum zu der Frage führt, ob man für seine schlechten Taten zur Verantwortung gezogen werden kann …“
„Wen interessiert das denn jetzt?“, murmelte Enno.
Aber Livia schien ihn gar nicht zu hören. „Glaubst du eigentlich an Gott?“
Enno stand auf. „Ich schätze, der Kaffee müsste jetzt fertig sein.“ Er deutete auf den Stoff- und Heuhaufen. „Am besten, ich bringe gleich den Mülleimer mit …“
Aber Livia schüttelte den Kopf. „Arvin wird die Reste vielleicht behalten wollen“, überlegte sie.
„Die Reste behalten?“, entrüstete sich Enno. „Arvin hat dir wohl ’ne Gehirnwäsche verpasst!“
„Ich möchte ihn nicht noch mehr verletzen“, sagte Livia leise.
„ Du … ihn ? Er verletzt dich!“, brach es aus Enno hervor. „Sieh dir doch dein Beet an! Mann, das kann ich wirklich nicht mehr länger mit ansehen!“ Einen Moment lang zögerte er. Dann ging er vor Livia in die Hocke, nahm ihre Hand und sagte: „Hör zu, Livia. Ich weiß, dass du dich Arvin gegenüber verpflichtet fühlst. Aber er ist ein Arschloch, das dich überhaupt nicht verdient hat. Und deshalb … na ja … ich hab eine ziemlich große Wohnung … Du könntest … bei mir unterkriechen, wenn du willst.“
Livia stand der Mund offen. „Das … das ist …“ Sie legte ihre Hand auf Ennos Wange. „Das ist das Netteste, was mir jemals passiert ist!“
Bisher hatte jeder nur versucht, sie loszuwerden. Karen hatte ihre Bitte, bei ihr einziehen zu dürfen, strikt abgelehnt. Von Arvin einmal ganz zu schweigen.
Enno legte seine Hand über Livias, drehte den Kopf und begann, die Innenfläche ihrer Hand zu küssen.
Livia, die von seinem Vorschlag immer noch ganz benommen war, hörte auf zu atmen und starrte auf ihre Hand.
Fünfzehn Sekunden später klingelte es an der Tür.
Enno sprang so plötzlich auf, als hätte man auf ihn geschossen. „Wer ist das?“, keuchte er.
Livia kam nur langsam zu sich. „Ich … Keine Ahnung“, stammelte sie.
„Ich hab den Wagen drei Straßen weiter geparkt“, murmelte Enno hektisch. „So wie immer. Es weiß also niemand, dass ich hier bin. Wer auch immer vor der Tür steht, du musst ihn unbedingt loswerden … Lass bloß keinen rein!“
Livia schüttelte leicht apathisch den Kopf. Sie konnte längst nicht so schnell umschalten wie Enno. „Jetzt geh schon!“, befahl Enno. „Sonst schleicht gleich jemand ums Haus!“
Dieses Mal nickte Livia und erhob sich.
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