Als gaebe es kein Gestern
mitten in ihrer Bewegung innehielt.
Livia kam es so vor, als hätte irgendwo jemand die Stopp-Taste gedrückt. Verwundert blickte sie von Enno zu Karen und wieder zurück zu Enno. Das amüsierte Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Stattdessen übermittelten seine Augen eine ernst gemeinte Drohung. „Wenn du das tust“, sagte er gefährlich leise, „werd auch ich mich mit ihm unterhalten. Verstanden?“
„Wir haben eine Abmachung!“ Karens Stimme zitterte vor Wut … oder war es Angst?
„Ich werde sie brechen“, flüsterte Enno. Und dann warf er Livia einen letzten Blick zu, drehte sich um und spazierte ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, sackte Karen deutlich sichtbar in sich zusammen.
„Welche Abmachung wird er brechen?“, fragte Livia. Es wunderte sie nicht, dass ihre Stimme leise und piepsig klang.
„Du wirst ihn nicht wiedersehen“, sagte Karen, ohne sich zu Livia umzudrehen. Sie starrte immer noch auf die Haustür. „Hast du das verstanden?“
„Ich bin nicht Vanessa“, begehrte Livia auf. „Ich entscheide selbst, mit wem ich mich treffe.“
„Nein, du bist Livia“, stimmte Karen ihr zu. „Livia Scholl . Und du bist mit Arvin Scholl verheiratet. Deshalb wirst du dich von anderen Männern gefälligst fernhalten.“
Livia stemmte die Hände in die Hüften. „Enno ist aber kein Mann“, protestierte sie. „Jedenfalls nicht in diesem Sinne. Er ist ein Freund, nichts weiter. Und er hat recht. Ich brauche Freunde. Wahrscheinlich brauche ich sie noch dringender als manch anderer.“
Karen seufzte tief und drehte sich endlich zu Livia um. Dann sagte sie versöhnlich: „Du hast mich … und … und diese Gunda. Reicht das denn nicht?“
„Nicht wenn man eine Antilope ist und in der Höhle des Löwen wohnt“, gab Livia zurück.
„Es sei denn … der Löwe ist alt und hat schon lange keine Zähne mehr … und alles, was er will, ist eine Antilope, die ihr Gras mit ihm teilt“, seufzte Karen. Sie zögerte einen Moment und fuhr dann fort: „Und was, wenn die Antilope nicht weiß, dass sie lahmt und dass draußen eine Hyäne auf sie wartet, die noch viel gefährlicher ist als der Löwe?“
Livia musste schlucken. „Was willst du damit sagen?“
Karen hob beschwörend die Hände. „Enno ist ein Arschloch, Livia. Er meint nicht dich. Er schmeißt sich nur an dich ran, um Arvin eins auszuwischen.“
„So ein Blödsinn“, lachte Livia. „Arvin möchte mich lieber heute als morgen loswerden. Wenn Enno ihm eins auswischen wollte, würde er dafür sorgen, dass ich für immer hierbleibe.“
„Arvin ist anders, als du denkst.“ Karens Blick war verzweifelt. „Das versuche ich dir schon so lange zu erklären.“
Für den Bruchteil einer Sekunde meinte Livia noch einmal den Schmerz zu spüren, den sie bei Arvin gesehen hatte … nein, glaubte gesehen zu haben. Und dann schüttelte sie bitter den Kopf. „Arvin ist das Arschloch“, sagte sie, mehr um sich selbst davon zu überzeugen als Karen, „nicht Enno.“ Sie schob trotzig die Unterlippe vor. „Und darum werde ich mich auch so oft mit ihm treffen, wie ich nur will!“
Kapitel 17
Obwohl Livia genau das tat – obwohl sie sich so häufig mit Enno traf, wie sie nur wollte –, ertappte sie sich von jenem Tag an dabei, dass sie ihm anders begegnete als vorher. Es war nicht so, dass sie ihm misstraute, eher war es so, dass sie ihn beobachtete, wenn nicht gar studierte.
Ob er das spürte?
Vielleicht. Livia hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihre Freundschaft anstrengender und irgendwie verkrampfter geworden war. Auf jeden Fall war Enno vorsichtiger geworden. Seit dem Zusammentreffen mit Karen parkte er seinen Wagen noch weiter vom Haus entfernt. Und er hatte ein Klingelzeichen mit Livia abgemacht, das ihr die Möglichkeit gab, nicht zur Tür zu gehen, wenn zum Beispiel Karen bei ihr
war.
Auch sein Verhalten war reservierter geworden. Den Vorschlag jedenfalls, dass Livia zu ihm ziehen könnte, wiederholte er nicht. Und er schlug auch niemals selbst ein Treffen vor, sondern wartete stets darauf, dass Livia ihn einlud.
Livia gefiel diese Zurückhaltung. Sie gab ihr das Gefühl, dass sie respektiert wurde. Was ihr weniger gefiel, war die Tatsache, dass ihre Gespräche mit Enno eher an der Oberfläche blieben. Wenn sie mal wieder die Frage aufwarf, was denn eigentlich einen Menschen ausmachte, wie man zu einem „Ich“ wurde, wie Enno sich selbst sah und definierte, klinkte er
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