Als gaebe es kein Gestern
Aber erst als es zum zweiten Mal klingelte, fing sie wirklich an sich zu beeilen. Sie rannte über den Flur und öffnete wenig später die Haustür.
Zu ihrer Überraschung stand Karen vor der Tür. Sie sah … irgendwie schlecht aus, fand Livia. Unter ihren Augen zeichneten sich tiefe dunkle Ringe ab. Und sie wirkte besorgt. „Stimmt was nicht?“, fragte Livia spontan.
„Ich muss mit dir reden“, antwortete Karen. Ihre Stimme klang müde und kratzig.
Erst jetzt fiel Livia wieder ein, dass Enno im Wohnzimmer auf sie wartete. Unwillkürlich berührte sie mit den Fingerspitzen ihrer Hand die Stelle, die Enno geküsst hatte. Ohne es zu wollen, errötete sie.
In Anbetracht der Tatsache, dass sich Livia nicht von der Stelle rührte und auch die Tür nicht weiter öffnete, fragte Karen: „Kann ich reinkommen?“
Livia schluckte. „Ich … äh … n-nein.“
„Was?“ Karen glaubte wohl sich verhört zu haben und starrte sie ungläubig an.
„Ich … na ja … kann grad nicht“, stammelte Livia und wackelte nervös mit ihren Zehen.
„Du kannst grad nicht“, wiederholte Karen. Zu der Müdigkeit in ihrer Stimme gesellte sich eine Spur Ärger. „Und warum nicht?“
„B-Besuch“, stotterte Livia.
Karen stemmte die Hände in die Hüften und legte den Kopf schief. Sie sah Livia so durchdringend an, dass diese noch hundertmal tiefer errötete, als dies ohnehin schon der Fall war. „Hier ist doch was faul“, murmelte Karen schließlich.
Livia wich ihrem Blick aus.
„Geh zur Seite“, befahl Karen. Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch und führte umgehend dazu, dass Livia vor ihr zurückwich. Der Gedanke, sich Karen zu widersetzen, entstand gar nicht erst.
Karen trat ein und heftete ihren Blick zunächst auf die Garderobe. Da sie hier jedoch keine fremden Kleidungsstücke vorfand, stapfte sie weiter in Richtung Küche. Livia eilte ihr nach. „Wusste ich’s doch“, entfuhr es Karen, als sie die beiden Gummibärchentüten auf der Arbeitsplatte liegen sah. Sie eilte darauf zu und hob sie an. „Leer“, kommentierte sie ihre Entdeckung. Und dann drehte sie sich zu Livia herum. „Ist es das, was du vor mir verheimlichen wolltest?“
Livia atmete innerlich auf, wollte jedoch nicht lügen und senkte einfach nur den Blick.
„Hast du wenigstens gefrühstückt?“, fragte Karen streng.
Livia sackte noch ein bisschen tiefer in sich zusammen und schüttelte den Kopf.
„Hast du noch mehr davon gekauft?“, setzte Karen ihre Befragung fort.
Livia nickte und zeigte andeutungsweise auf einen der Unterschränke. Als Karen diesen öffnete, erschrak sie sichtlich. In dem Schrank türmten sich die Süßwaren nur so. Kekse, Kaubonbons und Gummibärchen aller möglichen Sorten füllten den gesamten Schrank aus. „Das … das gibt’s doch nicht!“, entfuhr es Karen. „Ich hab dir vertraut, weil ich glaubte, es sei für deine Gesundung notwendig. Aber das hier … das … wie lange geht das schon so?“
„Nicht lange, wirklich nicht“, beteuerte Livia und schämte sich wirklich. „Anfangs hab ich alles richtig gemacht und … nur Süßigkeiten gekauft, die ich Arvin anbieten wollte. Ehrenwort. Aber dann …“ Sie seufzte tief und blickte Karen voller Verzweiflung in die Augen. „In letzter Zeit ist alles schiefgegangen“, jammerte sie drauflos. „Arvin hasst mich, da kann ich machen, was ich will!“
Karens Blick wurde zuerst weich … und spiegelte dann plötzlich einen Schmerz wider, der weit über das hinausging, was Livia durchmachte. Im nächsten Moment eilte sie auf Livia zu und stürzte sich in deren Arme. Sehr zu ihrer Überraschung fand sich Livia in einer Umklammerung wieder, die ihr die Luft zum Atmen nahm. „Alles ist so furchtbar“, brach es aus Karen hervor. „Wer kann das noch verstehen? Wer?“
Als Livia wenig später eine verräterische Nässe an ihrem Hals spürte, versteifte sie sich. Weinte Karen etwa? Karen … ihre Karen? Der Felsen ihres Lebens? „Meine Güte, Karen“, flüsterte Livia entsetzt. „Was … was ist denn nur los mit
dir?“
„Ich kann dir nicht noch mehr aufbürden“, schluchzte Karen. „Und Arvin auch nicht!“
„Aufbürden … wie? Was meinst du?“
„Vanessa …“, begann Karen mit zitternder Stimme. „Ich brauche –“ Sie wurde unterbrochen, weil es an der Tür klingelte.
„Was brauchst du?“, fragte Livia sanft.
Aber Karen hatte sich bereits aus der Umarmung gelöst und war dabei, ihre Tränen zu trocknen. „Geh nur“, sagte sie ein
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