Als Gott ein Kaninchen war
anderen vier Patienten an, mit ihm zu sprechen, wenn sie sich gut genug dazu fühlten, und bald kursierten Geschichten von Kriegen, Sex und Baseball, die nur verstummten, wenn eine Krankenschwester anwesend war. In diesen Situationen erinnerte die Station eher an eine alte Bar als an ein Krankenhaus. Manchmal brachte sie auch Musik mit und hielt ihm behutsam einen Kopfhörer ans Ohr. Sie schätzte, er war in seinen Dreißigern und rechnete sich aus, welche Songs ihn in seinem Leben vielleicht begleitet haben könnten. Sie spielte ihm Bowie und Blondie vor und Stevie Wonder– alles aus der Sammlung ihres Nachbarn geborgt, des Nachbarn, der über ihr wohnte.
Fast drei Wochen später bekam sie die Nachricht. Janice kam hereingestürmt und sagte, Bill sei aufgewacht. Grace rief einen Arzt. Als sie ins Zimmer kam, riss er an seiner Atemmaske, in Panik, sein linker Arm war schlaff. » Ist ja gut«, sagte sie, » ist ja gut«, und sie streichelte ihm über den Kopf. Er versuchte, sich aufzusetzen und bat um Wasser. Sie sagten ihm, er solle nur langsam daran nippen, sie sagten ihm, er solle nicht sprechen. Seine Augen huschten durch den Raum. Gerry im Bett gleich bei der Tür sagte: » Willkommen zurück, Junge.«
Als er kräftig genug war, kam die Polizei wieder.
» Wie heißen Sie?«, fragten sie ihn.
» Ich weiß es nicht.«
» Woher kommen Sie?«
» Ich weiß es nicht.«
» Wo wohnen Sie?«
» Ich weiß es nicht.«
» Gibt es jemanden, den wir für Sie verständigen können?«
Joe drehte sich weg.
» Ich weiß es nicht.«
Die nächsten Tage schlug er sich wacker. Aß gut, fing sogar an, etwas herumzulaufen, konnte sich aber noch immer an nichts erinnern. Er erkannte die Zwillingstürme, als ein architektonisches Gebilde, nicht als Ort, an dem er Meetings besucht hatte, Orte, die Leute beherbergt hatten, die er verloren hatte. Sie verlegten ihn aus der Intensivstation in ein Einzelzimmer. Von der Polizei gab es noch nichts Neues. Grace hielt ein Auge auf ihn, versuchte jeden Tag nach ihm zu sehen, brachte ihm Blumen mit und nannte ihn weiterhin Bill. Er hatte nichts dagegen. Sie unterhielten sich über Zeitungsartikel und schauten Filme an. Er sah einen Film mit Nancy Portman und beschloss, dass er sie mochte, denn er fand sie witzig. Und er wäre in diesem Moment sicher begeistert gewesen, hätte er geahnt, dass sie seine Tante war, aber natürlich wusste er es nicht. Er blieb eingesperrt in einer Welt, in der es nur die Gegenwart gab.
Grace wusste, wenn er noch weitere Fortschritte machte, würde er in eine psychiatrische Heilanstalt verlegt werden, und das würde ihn noch tiefer in einem System versinken lassen, aus dem er ohne Gedächtnis nie wieder herausfände.
Er stand am Fenster, ein trostloser Anblick, und summte eine Melodie, die er im Fernsehen aufgeschnappt hatte. Er drehte sich um und lächelte sie an.
» Weißt du, wie du diesen Zahn verloren hast?«, fragte sie und zeigte auf seinen Mund.
Er schüttelte den Kopf. » Wahrscheinlich eine Prügelei.«
» Du siehst nicht wie ein Raufbold aus«, sagte sie. » Zu zart.«
Dann, eines Nachts, als er schlief, ging Grace zu seinem Schließfach und holte zum letzten Mal seine Kleidung heraus. Sie waren die einzige Spur, die sie hatte. Sie nahm das verwaschene pinke T-Shirt und betrachtete wieder einmal das verblasste Abbild der Frau darauf– ein Filmsternchen vielleicht?– und darüber, kaum sichtbar, die Worte »Six« und »Judys«. Sie drehte es um. Konnte es kaum entziffern. »Sing mit ganzem Her«, stand auf dem Rücken.
Es war alles, was sie hatte.
Sie gab »Six Judys« in die Suchmaschine ein und drückte Enter. Wartete. Nichts auf der ersten Seite. Sie griff nach ihrem Kaffee. Er schmeckte schal. Sie stand auf und streckte sich.
Klickte die zweite Seite an.
»Herzen« lautete das Wort. Es war der neunzehnte Treffer:
Chor singt für wohltätige Zwecke.
The Six Judys ist ein Männerchor, der sich auf Musicalmelodien aus der guten alten Hollywoodära spezialisiert hat. Wir sind ein gemeinnütziger Verein, der schon eine Reihe von verschiedenen wohltätigen Zwecken unterstützt hat. Unter anderem UNICEF , HelpAge USA , den Bund der Wohnungslosen, die Krebsforschung und ganz persönliche Projekte wie das Sammeln von Spenden für Nierentransplantationen oder Herzoperationen. Wenn wir damit Ihr Interesse wecken konnten, melden Sie sich bitte bei Bobby unter folgender Nummer …
Es war schon spät, eigentlich zu spät, um dort anzurufen,
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