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Als Gott ein Kaninchen war

Als Gott ein Kaninchen war

Titel: Als Gott ein Kaninchen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Winman
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auf den Kopf.
    » Es macht mir nichts mehr. Er muss mir nicht gehören, ich will nur, dass sie ihn finden, ich will, dass er wieder in Sicherheit ist, sonst nichts. Er muss mir nicht gehören.« Er zog sich das Kissen übers Gesicht. » Bitte, sie müssen ihn finden«, hörte ich ihn sagen. » Oh Gott, bitte mach, dass sie ihn finden.«
    Zuerst roch ich ihr Parfüm, und das war auch der Grund, warum ich mich umdrehte und sah, wie sie zögernd die letzte Stufe hinaufstieg. Sie stellte sich neben mich in die Tür; gerade rechtzeitig, um seine Wahrheit zu hören.
    » Ich habe ihn so geliebt«, sagte mein Bruder und riss sich das Kissen wieder vom Gesicht.
    *
    Sein grobkörniges Foto prangte auf allen Titelseiten, ganz gleich ob seriöse Tagespresse oder Boulevardblatt. Unter anderen Umständen wäre es aufregend gewesen, sein dunkles, schönes Gesicht wiederzusehen, das uns von einem Strand aus anlächelte. Ein Strand, den wir eines Tages vielleicht besucht hätten, wären ihre Herzen einen weniger holprigen Weg gegangen. Er sah glücklich aus (glücklicher als wir) und so ahnungslos ob der Gewalt, die bald in sein Leben eindringen würde. Ich fragte mich, welche Vorstellungen seine Entführer davon hatten, wie viel er wert war, welche Vorstellung meine Eltern davon hatten, wie viel ich wert war. Hatte der Wert etwas mit Dingen wie Bravsein, Nützlichkeit oder Hilfsbereitschaft Menschen gegenüber, die sich in einer weniger glücklichen Lage befanden, zu tun? Ich dachte, dass ich vielleicht mehr wert war, als ich noch jünger war.
    Nachts, wenn ich dem Ruf der Eulen lauschte, sah ich ihn vor mir in einem dunklen Keller, an die Wand gekettet und umgeben von Knochen. Es stank, und am Boden stand eine Tasse mit schmutzigem Wasser. Es krabbelte in der Dunkelheit, schwarze Rücken schimmerten grünlich. Ich hörte Gesang, einen Gebetsruf. Einen Schrei. Ich schreckte hoch. Nur ein Fuchs.
    Sie schnitten ihm ein Ohr ab. Sie wickelten es in ein Taschentuch und schickten es an die Firma seines Vaters, sagten, sie würden ihm rechtzeitig zu Weihnachten auch noch das andere abschneiden und dann seine Hände.
    » Was glaubst du, ist ein Ohr wert, Nancy?«, fragte ich leise.
    » Alles«, sagte sie und verstrich schichtweise Sahne auf einem Trifle, obwohl keinem von uns danach war, es zu essen.
    Wir hielten vor dem Fernseher Wache, lösten uns dabei ab, um jede Neuigkeit an diejenigen, die gerade verhindert waren, weitergeben zu können. Die Schule rückte in den Hintergrund– ich würde vor dem nächsten Halbjahr nicht wieder in meine Klasse zurückkehren–, und unsere sonst übliche tägliche Routine war einfach vergessen. Es waren noch zwei Gäste da, glückliche Gäste, die aus unserem Familienkreis herausstachen wie der Festtagsschmuck, grellbunt, billig und unangemessen. Wir vernachlässigten sie, wie wir auch die Adventszeit vernachlässigten.
    » Was in anderen Länder passiert, geht uns nicht wirklich etwas an, oder?«, sagten sie.
    » Wie kann es uns nichts angehen?«, fragte mein Vater ungläubig.
    Meine Mutter sagte ihnen, sie sollen sich einfach bedienen, beim Frühstück und bei allem, was sie sonst noch bräuchten. Sie hielten sich daran, und dann reisten sie ab, ohne zu bezahlen.
    Mein Bruder aß nicht mehr. Nichts konnte seinen Magen dazu bringen, sich zu entkrampfen, und er tigerte von Zimmer zu Zimmer, doppelt gebeugt von der Kälte und seiner Angst davor, was da kommen mochte. Er schrumpfte förmlich in sich zusammen, die Schuld fraß ihn innerlich auf, und nur mein Vater verstand die Vehemenz dieser Gefühle.
    Ich schritt über den Rasen, störte unsanft den Raureif und drang in den Wald ein wie die frühe Morgensonne, unausstehlich wach. Ein metallischer Geschmack lag in der Luft, ein erwartungsvoller Geschmack, und ich rannte durch das Unterholz, schreckte die noch schlaftrunkenen Eichhörnchen und Vögel auf und wurde erst langsamer, als mein Sitz vor mir auftauchte. Ich setzte mich zitternd hin, holte die Dose aus meiner Tasche und entfernte das Gummiband, stemmte den Deckel auf und lugte hinein. Nur Asche, sonst nichts. Kein Hauch von Pfefferminz, nur Asche. Mir wollte kein Gebet einfallen und auch kein Lied, als ich sein staubiges Leben auf dem Waldboden verstreute.
    » Bitte finde ihn«, sagte ich. » Bitte finde Charlie.«
    Es war am dreiundzwanzigsten Dezember zur Mittagszeit. Es war kalt und trüb, und das ganze Dorf war mit der Neuigkeit erwacht, dass ein kleines Fischerboot an den Felsen draußen bei

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