Als Gott ein Kaninchen war
gedankenlos, » das hätte Charlie auch gefallen, oder?«
» Leck mich, Elly«, sagte er und setzte sich abrupt auf. Seine Heftigkeit ließ mich zurückschrecken.
Ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Bootsrand. Ich verfehlte nur knapp die Dolle und damit eine schlimmere Verletzung. Der Schmerz schoss mir bis in die Schulter, und ich fasste mir an den Arm; rieb ihn kräftig und schluckte die Tränen hinunter, die mir die Kehle zuschnürten. Ich wollte, dass er mich ansah, mir half, aber er tat es nicht. Stattdessen kniff er die Augen zusammen und starrte in die Sonne, als wäre blind zu werden noch immer besser als der Anblick meines verräterischen Gesichts. Ohne Steuermann trieb das Boot ziellos dahin und lief auf eine Kiesbank auf.
» Schau nur, was du gemacht hast«, sagte er.
» Tut mir leid«, sagte ich und rieb mir den Arm.
» Trottel.«
Es war ein Trugschluss, dass die Zeit seine Wunden geheilt hätte. Sie hatte es ihm nur möglich gemacht, seine Erfahrungen zu verstecken und abzulegen unter dem Etikett: Er und Ich.
Schweigend warteten wir, bis die Flut zunahm, und während ich weiter den Bluterguss am Ellbogen rieb, schwor ich mir, seinen Namen nie wieder zu erwähnen. Für mich war er tot. Und so verschwand er wieder aus unserem Leben in einer bequemen Amnesie, bis zu jener merkwürdigen Nacht, als er überraschend wieder auftauchte. In der sein Name völlig unerwartet wieder ausgesprochen wurde. Aber nicht von uns.
Der frische Geruch von Raureif holte mich aus dem Schlaf, und ich stand rasch auf, um das Fenster zu schließen. Die Landschaft draußen sah fast milchig aus, makellos, still, schaurig unberührt, abgesehen von den versetzten Spuren eines einsamen Buchfinks auf der Suche nach Leben. Der Winter war an jenem Morgen mit voller Wucht und absolut unverhofft über ein völlig unvorbereitetes Dorf hereingebrochen. Alles fühlte sich langsamer an. Bewegungen, Gedanken. Sogar der Atem. Allerdings nur, bis hektische Rufe meines Namens durch das Weiß drangen wie eine Säge durch Stahl und mich mit den eiligen Schritten der Angst nach unten trieben. Der Fernseher lief:
» Der sechzehnjährige Junge heißt polizeilichen Angaben zufolge Charlie Hunter«, verkündete der Nachrichtensprecher. » Er war gegen zweiundzwanzig Uhr von maskierten Männern aus einem Haus am Stadtrand von Beirut entführt worden, das als gut bewacht galt. Der Entführte lebte bei seinem Vater, einem hochrangigen Manager aus der Ölindustrie, der für eine amerikanische Firma in Dubai tätig ist. Zum Zeitpunkt der Entführung sollen die beiden zu Besuch bei Freunden in Beirut gewesen sein. Unbestätigten Angaben zufolge wurde am Tatort ein Erpresserbrief gefunden. Noch hat sich keine Gruppierung zu der Entführung bekannt, und bis zum jetzigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob die Forderungen der Entführer finanzieller oder politischer Art sind. Wir werden über die weiteren Entwicklungen in diesem Fall berichten.«
Es folgte ein harter Schnitt, und ein Reporter fing an, über die aktuellen Ölpreise zu sprechen. Mein Vater drehte die Lautstärke herunter, bis sich Stille im Raum breitmachte und nur noch das zuckende Licht der Fernsehbilder über unsere Gesichter flimmerte.
» Du großer Gott«, sagte Nancy.
» Ich kann das nicht glauben«, sagte meine Mutter. » Charlie? Unser Charlie?«
» Charlie, der Rugbyspieler?«, fragte mein Vater.
» Joes Charlie«, mischte ich mich in der Absicht zu helfen ein, aber es hatte den gegenteiligen Effekt, denn Joe rannte aus dem Zimmer.
» Ich gehe«, sagte Nancy, stand auf und folgte ihm.
Sie setzte sich zu ihm aufs Bett.
» Ich habe mir gewünscht, er sei tot, Nance«, mein Bruder rang nach Atem. » Ich wollte die ganze Zeit, dass er scheißtot ist, wie bei Golan.«
Ich blieb in der Tür stehen und blickte zu ihnen, als warte ich auf irgendeine Anweisung, die die Situation entspannen könnte oder mich von Zimmer zu Zimmer schicken würde, in einer Mission, die nur ich erfüllen könnte. Aber sie blieb aus.
» Wovon redest du?«, fragte Nancy ruhig.
» Und jetzt passiert es vielleicht«, sagte Joe.
» Das wird nicht passieren.«
» Wie soll ich damit nur leben?«
» Solche Dinge sagt man so dahin«, versuchte Nancy ihn zu beschwichtigen. » Ohne es wirklich zu meinen. Weil man verletzt ist und wütend und müde und wegen allem möglichen anderen Mist, aber das heißt doch nicht, dass es wirklich passiert. So viel Macht hast du nicht«, fuhr sie fort und küsste ihn
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