Als Gott ein Kaninchen war
niemanden zum Gebet rief, und doch hatten wir direkt neben ihr festgemacht.
» Das ist aber gruselig«, meinte mein Bruder.
» Mehr als gruselig. Wir sollten gar nicht hier draußen sein«, sagte ich und ließ meine Hand über das raue, kalte Metall gleiten. Als mein Bruder den Motor startete, fing die Glocke plötzlich an zu läuten, und ich sank zu Boden und brach in Tränen aus. Ich sagte meinem Bruder, ich sei ausgerutscht, mein Fuß hätte sich in einem Seil verfangen. Aber was ich ihm nie verriet, war, dass sich das Metall, als die Glocke zu läuten begann, plötzlich warm anfühlte, als hätte sie sich insgeheim nach menschlicher Berührung gesehnt, und die Laute, die sie so plötzlich von sich gab, wären in Wahrheit der Klang ihres Kummers.
» Glaubst du an Gott, Arthur?«, fragte ich, während ich das letzte Stück Biskuitkuchen aß.
» Ob ich an einen bärtigen, alten Mann in den Wolken glaube, der uns Sterbliche anhand einer Moralpunkteskala von eins bis zehn bewertet? Herrje nein, meine kleine Elly, das tue ich nicht! Ich mit meiner schmuddeligen Geschichte wäre da doch schon längst aus diesem Leben verstoßen worden. Aber glaube ich an ein Geheimnis, an das unerklärliche Phänomen, das das Leben selbst darstellt? Dass etwas Höheres die Belanglosigkeit unseres Lebens erhellt, etwas, nach dem wir streben können und das uns die Demut gibt, uns den Staub abzuklopfen und wieder von vorne zu beginnen? Ja, daran glaube ich. Es ist die Quelle der Kunst, der Schönheit, der Liebe, und es ist ein Angebot an die Menschheit, das Angebot des ultimativ Guten. Das ist Gott für mich. Das ist das Leben für mich. Das ist es, woran ich glaube.«
Wieder lauschte ich dem Läuten der Glocke, das über die Wellen flüsterte, uns rief, rief. Ich schleckte meine Finger ab und knüllte die Alufolie zu einer Kugel zusammen.
» Glaubst du, ein Kaninchen kann Gott sein?«, fragte ich beiläufig.
» Es gibt absolut keinen Grund, der dagegen spräche, dass ein Kaninchen Gott sein könnte.«
Es ist wieder Dezember. Mein Geburtstag. Außerdem ist es der Tag, an dem John Lennon erschossen wurde. Ein Mann kam auf ihn zu und erschoss ihn vor seinem Haus in New York, vor den Augen seiner Frau. Erschoss ihn einfach. Ich begreife es nicht; tagelang.
» Die Guten sterben früh«, sagt Jenny Penny während unseres Telefonats.
» Warum?«, frage ich.
Aber sie tut so, als habe sie mich nicht gehört, tut so, als sei die Verbindung schlecht. Das macht sie immer, wenn sie keine Antwort weiß.
Ich gehe früh schlafen, untröstlich. Ich blase nicht einmal die Kerzen auf meinem Geburtstagskuchen aus.
» Eine Kerze ist schon erloschen in dieser Welt«, sage ich. Ich hebe mir sogar meine Geschenke für einen anderen Tag auf. An diesem Tag gibt es einfach nichts zu feiern.
Ich wartete an dem kleinen Bahnhof und blickte von der Brücke hinunter auf die schlichte Symmetrie der Gleise, die in beide Richtungen führten: nach London oder nach Penzance. Ich war früh dran. Ich war gern zu früh hier, in der Hoffnung, das Unmögliche könnte geschehen und der Zug seinem Fahrplan voraus sein, aber das passierte nie. Die Morgenluft war grau und eisig. Ich pustete in meine Hände, und der Atem strömte neblig aus meinem Mund. Die Kälte war schnell durch meine Schuhe gedrungen und nistete sich nun in meinen Zehen ein. Sie waren bestimmt schon ganz weiß, und nur ein heißes Bad würde wieder Leben in sie bringen.
Ich hatte ihn ganze drei Monate nicht gesehen. Er wurde jetzt vom Schulalltag in Beschlag genommen und von den Straßen Londons, die mich seiner beraubten. Mir an seiner statt nur einen Stapel Briefe überließen, die ich alle in einem DIN -A4 Ordner mit der Aufschrift PRIVAT abheftete. In Wirtschaft sei er wirklich gut, schrieb er, und genauso in Kunst. Auch einem Chor sei er beigetreten, und er habe wieder mit dem Rugbyspielen angefangen, jetzt, da er sich endlich etwas ausgeglichener fühle, jetzt, da er wieder glücklicher sei. Ich dachte erst, » Rugbyspielen« sei ein Codewort für einen neuen Freund, aber so war es nicht; er hatte wirklich wieder angefangen zu spielen.
Liebe, so schien es, war für ihn nichts weiter als eine ferne Erinnerung.
An diesem Bahnhof gab es nichts, kein Café, keinen Wartesaal. Nur einen Unterstand auf dem Bahnsteig, der nützlich und unnütz zugleich sein konnte, je nachdem aus welcher Richtung der Wind wehte. Aber ich war zu aufgeregt, um im Auto zu warten und mir Alans Cliff-Richard-Kassette
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