Als Gott ein Kaninchen war
Aber sie ließ uns an den weißen Rosen riechen, und wir taten so und sagten, dass sie recht habe, der Duft intensiv sei. Ginger erzählte, ihr Besucher sei ein älterer Mann gewesen, so um die sechzig, aber noch immer gutaussehend, doch das Alter spiele keine Rolle, denn er habe sie gefunden, und er sei genauso, wie sie ihn sich vorgestellt habe. Sein Name sei Don gewesen, und er sei ihr Sohn. Sie habe ihn schon vor Jahren aufgegeben, sagte sie, aber sie habe sofort, als er hereinkam, gewusst, dass er es sei. Er habe ihr Blumen mitgebracht, schaut. Rosen. Weiße Rosen. Und sein Name sei Don. Er habe sie gesucht und gefunden. Und nun fühle sie sich gut. Nun sei sie beruhigt und könne gehen.
Wir werden die Wahrheit hinter dieser Geschichte nie erfahren, und ich glaube auch nicht, dass einer von uns das wirklich will. Es ist eine Geschichte, die in diesem Zimmer anfing und endete. Arthur meint, jeder nimmt etwas mit ins Grab …
Am Ende gab es weder lange Reden noch große Abschiedsworte; Ginger entglitt uns einfach um vier Uhr morgens, während wir schliefen. Kurz darauf wurde ich wach– aus Intuition vielleicht?–, ich sah zu ihr herüber und wusste sofort, dass sie gegangen war. Als sei die Luft, die sich einst in ihrem Körper befunden hatte, aus ihr herausgesaugt worden und durch eine umrissartige Landschaft von hohler Beschaffenheit ersetzt worden.
Ich küsste sie und sagte Lebewohl. Arthur bewegte sich im Schlaf. Ich kniete mich zu ihm und weckte ihn behutsam auf.
» Sie ist gegangen, Arthur«, sagte ich, und er nickte nur und sagte » Oh«, und ich ließ ihn allein, damit er sich von ihr verabschieden konnte, während ich mich auf die Suche nach einer Krankenschwester begab.
Ich stieg die hunderteinunddreißig Stufen hinunter, die ich nun schon seit sechs Wochen vier Mal am Tag hinunter und wieder hinauf gestiegen war, und ging auf den Vorplatz hinaus. Es war natürlich noch dunkel; hier und da brannten Lichter, und das Plätschern des Springbrunnens war zu hören. Ich sah zum Himmel hinauf. » Seit heute gibt es einen neuen Stern da oben«, hätte mein Bruder jetzt zu mir gesagt, wäre ich jünger gewesen, wäre er hier; und vierzig Minuten lang hielt ich danach Ausschau. Aber ich war schon zu alt. Ich konnte sie nirgends sehen. Da, wo sie gewesen war, war jetzt nur noch leerer Raum.
Sie starb einen Monat vor Prinzessin Diana.
» Um ihr nicht die Show zu stehlen«, sagten wir alle.
7. September 1997
Liebe Elly,
das ganze Gefängnis hat sich gestern die Beerdigung angeschaut. Die armen Jungen, wie sie da hinter dem Sarg hergingen. Es war sehr still hier drinnen. Jeder hatte seinen eigenen Grund zu trauern. Für die Meisten war es die verlorene Zeit – die Zeit, die sie drinnen verbringen, getrennt von ihren Familien, oder die Zeit, die sie mit Trinken vergeudet haben oder mit Drogen. Oder der Tod von geliebten Menschen, die sie niemals wiedersehen werden. Oder die Kinder, die man ihnen weggenommen und in Pflege gegeben hat. Westminster Abbey sah schön aus. Ich war noch nie dort. Auch nicht in St Paul’s oder im Tower of London. So viele Orte, die es noch zu sehen gibt.
Hier drinnen kursieren allerlei Verschwörungstheorien. Wie immer. Ich habe ihnen gesagt, die Leute hätten besser aufgehört, sie » Di« zu nennen, das wäre schon mal ein Anfang gewesen.
In Deinem letzten Brief hast Du Mr Golan erwähnt.
In meinem Leben gab es auch einen Mr Golan.
Einer der früheren Freunde meiner Mutter.
Manchmal, wenn wir verabredet waren und ich zu spät kam, dann war nicht mein Haar der Grund dafür. Ich wünschte, ich hätte es Dir erzählt. Es tut mir leid. Hier drinnen helfen sie mir damit. Das tut gut. Reden. Viel reden.
Vor zwei Tagen habe ich mir die Haare abrasiert. Ich dachte, ich würde wie ein Mann aussehen, aber alle sagen, es sei hübsch. Ich fühle mich seltsam befreit. Schon komisch, was Haare mit einem machen können.
Das mit Deinem Besuch hier tut mir wirklich leid. Bitte hör nicht auf, Geduld mit mir zu haben, Elly.
Pass immer auf Dich auf.
Deine Liberty, Deine Jenny x
Der letzte August vor der Jahrtausendwende braute sich über uns zusammen, und mein Vater stornierte plötzlich alle Reservierungen. Er lehnte alle weiteren Buchungen ab und ließ unser Haus stattdessen gähnend leer verharren als Vorbereitung für uns, seine Familie. Es war das erste Mal, dass wir alle wieder zusammenkommen würden, nachdem Gingers Asche verstreut worden war. Und es war ein Verhalten, das so
Weitere Kostenlose Bücher