Als Gott ein Kaninchen war
Ich dachte immer, sie verschwand, um sich etwas anzutun, um sich umzubringen. Weißt du, eine große Geste, ihre Weigerung, nach Hause zu fahren. Aber jetzt verstehe ich, dass sie uns einfach zu einem bestimmten Ort geführt hat, einem bestimmten Moment, wo sie uns zeigen konnte, wie besonders sie war. Wie anders als alle anderen sie war.«
» Wie auserwählt.«
Ich fühlte mich beklommen. Ich kletterte über die Felsen zum vordersten Punkt, an dem das zerklüftete Ufer sich mit dem Meer vereinte. Es herrschte Ebbe– das Wasser war weit draußen–, und es wäre kein Ding der Unmöglichkeit gewesen, an diesem Nachmittag zur Insel hinüberzulaufen. Ich hatte es schon einmal gemacht. Ich blickte nach Osten zum Black Rock, betrachtete seine vertrauten Umrisse, die sich aus einem schwarz wogenden Bett erhoben. Der Krabbenfang war dieses Jahr gut verlaufen; er entfachte immer meine kindliche Fantasie. Eimerweise durchsichtig graue Tierchen, die am Strand gekocht wurden. Damals ging das noch– heute natürlich nicht mehr.
Die Sonne fühlte sich heiß an. Der vertraute übelriechende Gestank der Ebbe stieg mir in die Nase. Der Wind hatte ein starkes, salziges Aroma. Ich warf einen Stein nach einem herumtollenden Köter. Kehrte um; achtete gewissenhaft auf einen sicheren Schritt. Mir wurde bewusst, dass die Erinnerung an jenes Weihnachten bei meinem Bruder genauso ungenau war wie bei mir selbst. Es war Jenny Penny, die diese Suche angezettelt und auch ihre Entdeckung initiiert hatte, genauso wie sie am Abend ihrer Ankunft das Gespräch herausgefordert hatte.
» Glaubt ihr an Gott?«
» Das ist aber eine große Frage für einen Abend wie diesen«, sagte Nancy. » Obwohl man fairerweise sagen muss, dass sie zu dieser Zeit des Jahres auch ziemlich passend ist.«
» Glaubst du denn an Gott, Jenny?«, fragte meine Mutter.
» Natürlich«, sagte sie.
» Da scheinst du dir ja ziemlich sicher zu sein«, meinte mein Vater.
» Bin ich auch.«
» Und warum ist das so, Herzchen?«
» Weil er mich auserwählt hat.«
Schweigen.
» Was meinst du damit?«, fragte mein Bruder.
» Ich wurde tot geboren.«
Der ganze Tisch schwieg, als sie uns ihre Geburt genau beschrieb und die Gebete und die Wiederbelebungsversuche, die folgten. Und niemand ging in dieser Nacht schlafen. Niemand wollte in ihrer Anwesenheit abwesend sein– nicht aus Angst, außer davor, dass sie uns etwas zeigen könnte, wofür wir noch nicht bereit waren.
Ich setzte mich auf die Mauer und blickte über die flachen Oberflächen der mit Seetang bedeckten Felsen, und mir fiel wieder ein, wie sie es in jener Nacht angestellt hatte, über das Wasser zu laufen. Ich wusste es schon seit Jahren, aber nun sah ich, wie genau sie sich die abgestufte Formation eingeprägt haben musste, der Weg, der in jener Nacht mit ihr kollaboriert und ihr vorübergehend sicheren Halt geboten hatte.
Ich war über den Hügel gekommen, erinnerte ich mich, außer Atem von meinem panischen Lauf. » Sie ist hier!«, rief ich meinem Bruder zu, und sah, dass sie zu uns herüberschaute; nicht vor uns weglief, sondern auf ihr Publikum wartete, bevor sie ihre langsame Bahn über die knapp unter Wasser liegenden Felsen hinein in die heranrollenden Wellen einschlug.
» Ich geh nie mehr nach Hause, Elly.« Das hatte sie am Tag zuvor zu mir gesagt, aber ich nahm sie nicht ernst– hielt es für die Enttäuschung, die Katerstimmung, die sie am zweiten Weihnachtsfeiertag gepackt hatte.
Sie hatte überall im Haus Botschaften hinterlassen, auch im Garten, an den nackten Ästen der Obstbäume befestigt. Wir hielten es für ein Spiel– es war ein Spiel–, aber wir dachten, es sei ein Spiel, das ein glückliches Ende nehmen würde; ein gemeinsames: » Gut gemacht! Jetzt bin ich dran!« Aber dann kippte es. Es wurde dunkel, und wir bekamen es mit der Angst zu tun. Meine Eltern und Nancy suchten im Wald nach ihr und talaufwärts in den angrenzenden Gegenden, wo sumpfige Erde auch den, der umsichtig seine Schritte setzt, in einen Hinterhalt locken konnte. Alan fuhr die Straßen nach Talland, Polperro und Pelynt ab. Später nahm er auch die Straße, die quer durchs Dorf schnitt, in der Absicht, ihrem kurvigen Verlauf bis nach Sandplace zu folgen. Wir waren bereits auf der Brücke, als wir ihn anhielten. Wir alle drei. Joe, ich und sie. Schweigend, zitternd und unbeeindruckt.
Auf die besorgten Fragen meiner Eltern gab sie keine Antwort. Saß stattdessen vor dem Kamin und zog sich eine Decke über den
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