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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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müde. Anna hatte schon im Zug eine Veränderung bemerkt, nachdem dieser Basel verlassen hatte. Es waren immer mehr französische Stimmen zu hören gewesen, die schnell, scharf und unverständlich sprachen. Auch die Gerüche, die aus dem Speisewagen kamen, waren ungewohnt gewesen.
    Aber nun, als sie auf dem Bahnsteig in Paris stand, war sie überwältigt.
    Sie war umgeben von Leuten, die schrien, einander begrüßten, redeten und lachten. Ihre Lippen bewegten sich rasch, ihre beweglichen Gesichter hielten mit den Lippen Schritt. Sie zuckten die Schultern, umarmten einander, schwenkten die Hände, um zu unterstreichen, was sie sagten - und sie konnte kein Wort verstehen. Einen Augenblick lang fühlte sie sich verloren in dem gedämpften Licht, dem Lärm und dem Dampf, der aus der Lokomotive zurückschlug.
    Aber dann hatte Papa sie und Max in ein Taxi verfrachtet, und sie rasten durch die überfüllten Straßen.
    Überall waren Lichter. Menschen spazierten über breite Bürgersteige, aßen und tranken hinter den verglasten Veranden der Cafes, lasen Zeitungen, betrachteten Schaufenster. Sie hatte ganz vergessen, wie es in einer großen Stadt aussah. Die Höhe der Gebäude überraschte sie und der Lärm. Während das Taxi durch den Verkehr kurvte, tauchten unbekannte Autos und Busse und farbige Leuchtschriften, die sie nicht entziffern konnte, aus der Dunkelheit auf und verschwanden wieder.
    »Da ist der Eiffelturm«, rief Max - aber Anna drehte sich nicht schnell genug, um ihn zu sehen.
    Dann fuhren sie um einen riesigen offenen Platz herum, in dessen Mitte ein von Licht überfluteter Torbogen stand. Überall waren Autos, und die meisten hupten.
    »Das ist der Arc de Triomphe«, sagte Papa. »Wir sind beinahe da.«
    Sie bogen in eine ruhigere Allee ein und dann in eine kleine, schmale Straße, und dann kam das Taxi ganz plötzlich mit knirschenden Reifen zum Stehen.
    Anna und Max standen in der Kälte vor einem hohen Haus, während Papa den Fahrer bezahlte. Dann öffnete er die Haustür und schob sie in den Hausflur, wo in einer Art Käfig mit verglaster Vorderseite eine Frau saß und döste. Sobald sie Papas ansichtig wurde, kam Leben in sie. Sie stürzte aus einer Tür in ihrem Käfig heraus, schüttelte ihm die Hand und redete dabei sehr schnell auf französisch. Dann, immer noch redend, schüttelte sie Max und Anna die Hand, und sie konnten, da sie nichts verstanden, nur matt zurücklächeln.
    »Das ist Madame la Concierge«, sagte Papa. »Sie bewacht das Haus.«
    Der Taxifahrer kam mit dem Gepäck herein, und Madame la Concierge half ihm, es durch eine schmale Tür zu schieben, die sie dann für Max und Anna aufhielt. Sie wollten ihren Augen nicht trauen.
    »Papa«, sagte Max, »du hast uns nichts davon gesagt, daß es hier einen Aufzug gibt.«
    »Das ist sehr, sehr schick«, sagte Anna.
    Darüber mußte Papa lachen.
    »So kann man es kaum nennen«, sagte er. Aber Anna und Max waren begeistert, auch als der Aufzug schrecklich knarrte und stöhnte, während er langsam zum obersten Stock hinauffuhr. Schließlich blieb er mit einem Knall und Erbeben stehen, und noch bevor sie ausgestiegen waren, flog eine Tür gegenüber auf, und da war Mama.
    Anna und Max stürzten auf sie zu, und es entstand eine Riesenverwirrung, während sie sie herzte und beide versuchten, ihr alles zu erzählen, was sich seit ihrer Trennung ereignet hatte. Und dann kam Papa mit den Koffern und küßte Mama, und danach brachte die Concierge den Rest des Gepäcks, und plötzlich war die winzige Diele der Wohnung so mit Gepäckstücken vollgepfercht, daß niemand sich rühren konnte.
    »Kommt ins Eßzimmer«, sagte Mama. Das war auch nicht viel größer als die Diele, aber der Tisch war zum Abendessen gedeckt, und es sah hell und einladend aus.
    »Wo kann ich meinen Mantel aufhängen?« rief Papa aus der Diele.
    »Hinter der Tür ist ein Haken!« rief Mama.
    Max war mitten in einer wortreichen Beschreibung, wie sie beinahe in den falschen Zug gestiegen wären.
    Dann gab es einen Krach, als wäre jemand über irgend etwas gestolpert. Anna hörte Papas höfliche Stimme »guten Abend« sagen und der brenzlige Geruch, den Anna schon bei ihrer Ankunft bemerkt hatte, wurde intensiver.
    Eine kleine düstere Gestalt erschien in der Türöffnung.
    »Ihre Bratkartoffeln sind ganz schwarz geworden«, verkündete sie mit sichtlicher Genugtuung.
    »Oh ... Grete!« rief Mama. Dann sagte sie: »Dies ist Grete aus Österreich. Sie ist in Paris, um Französisch zu

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