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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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Herr Graupe. (Gewöhnlich schrieb sie die besten Aufsätze der Klasse.)
    »Es war so schön. Das Erlebnis hätte dich begeistern sollen.« Und er ging davon, persönlich gekränkt, weil sie seinen Sonnenaufgang nicht recht würdigte. Als sie aus der Schule kam, war keine Postkarte da, und bei der letzten Post um sieben war auch nichts. Es war das erste Mal, daß Mama und Papa nicht geschrieben hatten. Anna gelang es, während des Abendessens sich mit dem Gedanken an eine Postverzögerung zu trösten, aber als sie im Bett lag und das Licht gelöscht war, kamen die Schrecken der vergangenen Nacht mit solcher Gewalt zurückgeflutet, daß sie das Gefühl hatte, zu ersticken. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, daß sie eine Jüdin war und keine Angst haben durfte, weil sonst die Nazis sagten, alle Juden seien feige - aber es hatte keinen Zweck. Sie sah immer wieder den Raum mit der seltsamen Decke und dem schrecklichen Münzenregen, der auf Papas Kopf herunterfiel. Obwohl sie die Augen schloß und den Kopf in den Kissen vergrub, konnte sie es sehen.
    Sie mußte ein Geräusch von sich gegeben haben, denn plötzlich sagte Max: »Was ist denn los?«
    »Nichts«, sagte Anna, aber noch als sie es aussprach, fühlte sie, daß etwas wie eine kleine Explosion sich aus ihrem Magen in die Kehle drängte, und plötzlich schluchzte sie: »Papa ... Papa...«, und Max saß auf ihrem Bett und tätschelte ihren Arm. »Oh, du Idiot!« sagte er, als sie ihm ihre Ängste erklärt hatte.
    »Weißt du denn nicht, was es heißt, einen Preis auf jemandes Kopf aussetzen?«
    »Nein ... nicht das, was ich gemeint habe?« sagte Anna.
    »Nein«, sagte Max. »Etwas ganz anderes, als was du gedacht hast. Einen Preis auf jemandes Kopf aussetzen heißt, jemandem eine Belohnung versprechen, wenn er einen bestimmten Menschen fängt.«
    »Da hast du es«, heulte Anna, »die Nazis versuchen, Papa zu fangen.«
    »Nun, irgendwie schon«, sagte Max. »Aber Herr Zwirn hält es nicht für sehr ernst - sie können ja auch nichts machen, weil Papa nicht in Deutschland ist.«
    »Glaubst du, es geht ihm gut?«
    »Natürlich geht es ihm gut. Morgen früh haben wir eine Postkarte.«
    »Aber wenn sie nun jemand nach Frankreich schicken, der ihn fangen soll - einen Kidnapper oder so einen?«
    »Dann müßte die ganze französische Polizei Papa beschützen.« Max versuchte, einen französischen Akzent oder was er dafür hielt, zu imitieren. »Geh weck, bitten. Is nisch erlaupt kidnä’ppeen in France.
    Wir hacken ab deinen Kopf mit Guillotine, nein?«
    Er machte es so schlecht, daß Anna lachen mußte, und Max war über seinen Erfolg ganz überrascht.
    »Schlaf jetzt lieber«, sagte er, und sie war so müde, daß sie es bald wirklich tat.
    Am Morgen bekamen sie statt der Postkarte einen langen Brief. Mama und Papa hatten beschlossen, daß sie alle zusammen in Paris wohnen würden, und Papa würde kommen, um sie abzuholen.
    »Papa«, sagte Anna, nachdem sich ihre erste Freude, ihn gesund und munter wiederzusehen, gelegt hatte, »Papa, ich habe mir ein bißchen Sorgen gemacht, als ich hörte, daß sie einen Preis auf deinen Kopf ausgesetzt haben.«
    »Ich auch«, sagte Papa. »Sogar große Sorgen.«
    »Wirklich?« fragte Anna überrascht. Papa war ihr immer so tapfer vorgekommen.
    »Nun, es ist doch ein sehr niedriger Preis«, erklärte Papa. »Mit tausend Mark kann man heutzutage nicht viel anfangen. Man sollte doch denken, daß ich eine Menge mehr wert bin, meinst du nicht auch?«
    »Doch«, sagte Anna. Ihr war schon viel froher zumute.
    »Kein Kidnapper, der etwas auf sich hält, würde mich anrühren«, sagte Papa. Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich hätte Lust, an Hitler zu schreiben und mich zu beklagen.«

12
    Frau Zwirn packte die Sachen der Kinder. Sie sagten ihren Freunden und den Lehrern in der Schule auf Wiedersehen, und dann waren sie bereit, ihr neues Leben in Frankreich zu beginnen. Aber es war ganz anders, als von Berlin wegzugehen, wie Anna sagte, denn sie würden jederzeit zurückkommen und alle im Gasthaus Zwirn besuchen können, und Herr Zwirn hatte sie schon für den nächsten Sommer eingeladen.
    Sie sollten in Paris in einer möblierten Etagenwohnung leben, die Mama gerade für sie vorbereitete.
    »Wie sah sie aus?« Max wollte es wissen.
    Papa dachte einen Augenblick nach. »Wenn man auf dem Balkon steht«, sagte er schließlich, »kann man gleichzeitig den Eiffelturm und den Triumphbogen sehen - das sind zwei berühmte Sehenswürdigkeiten

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