Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
erst sieben Uhr war, zu Bett.
Auf der Treppe stieß sie auf Franz und Vreneli, die zusammen flüsterten. Als sie sie sahen, wurden sie gleich still.
»Was habt ihr da gesagt?« fragte Anna. Sie hatte den Namen ihres Vaters aufgeschnappt und etwas von den Nazis.
»Nichts«, sagte Vreneli.
»Doch«, sagte Anna, »ich hab’s gehört.«
»Papa hat gesagt, wir sollen es dir nicht sagen«, sagte Vreneli verlegen.
»Damit du dich nicht aufregst«, sagte Franz. »Aber es hat in der Zeitung gestanden. Die Nazis haben einen Preis auf den Kopf deines Vaters ausgesetzt.«
»Einen Preis auf seinen Kopf?« fragte Anna entgeistert.
»Ja«, sagte Franz, »tausend deutsche Mark. Papa sagt, da sieht man, wie bedeutend dein Vater sein muß. Es ist ein Bild von ihm in der Zeitung.«
Wie kann man tausend Mark auf den Kopf eines Menschen setzen? Anna fand das unsinnig. Sie beschloß, Max zu fragen, wenn der ins Bett kam, aber sie war lange vorher eingeschlafen.
Mitten in der Nacht wachte Anna auf. Es geschah ganz plötzlich, als wäre etwas in ihrem Kopf angeknipst worden, und sie war sofort hellwach. Und als ob sie die ganze Nacht nichts anderes gedacht hätte, wußte sie plötzlich mit schrecklicher Klarheit, wie man tausend Mark auf den Kopf eines Menschen setzt.
Im Geist sah sie ein Zimmer. Es war ein komisches Zimmer, denn es war in Frankreich, und die Decke war nicht dicht, sondern bestand aus kreuz und quer gelegten Balken. In den Lücken zwischen den Balken bewegte sich etwas. Es war dunkel, aber jetzt tat sich die Tür auf, und das Licht ging an. Papa kam ins Bett.
Er ging ein paar Schritte auf die Mitte des Zimmers zu.
»Nicht!« wollte Anna schreien - und dann fing es an, schwere Münzen zu regnen. Es schüttete von der Decke herunter auf Papas Kopf. Er schrie, aber die Münzen fielen immer weiter. Er sank unter dem Gewicht in die Knie, aber die Münzen fielen und fielen, bis er ganz darunter begraben war.
Das hatte Herr Zwirn sie also nicht wissen lassen wollen. Das war es, was die Nazis mit Papa machen wollten. Oder vielleicht hatten sie es, da es schon in der Zeitung stand, bereits getan. Sie lag da, starrte in die Dunkelheit, und ihr war ganz übel vor Angst. Im anderen Bett konnte sie Max ruhig und regelmäßig atmen hören. Sollte sie ihn wecken? Aber Max wurde nicht gern im Schlaf gestört - er würde wahrscheinlich nur böse sein und sagen, es wäre alles Unsinn.
Und vielleicht ist alles tatsächlich nur Unsinn, dachte sie, und ihr Herz wurde plötzlich leichter.
Vielleicht würde sie am Morgen einsehen, daß es nur einer dieser dummen nächtlichen Angstträume war, die sie früher, als sie noch jünger war, gequält hatten - zum Beispiel als sie sich eingebildet hatte, das Haus brenne, oder das Herz würde ihr stillstehen. Am Morgen würde wie gewöhnlich die Postkarte von Mama und Papa kommen, und alles wird dann wieder gut.
Ja, aber dies war nichts, was sie sich eingebildet hatte. Es hatte in der Zeitung gestanden... Ihre Gedanken gingen immer im Kreis. Einen Augenblick schmiedete sie Pläne, daß sie aufstehen und einen Zug nach Paris nehmen wollte, um Papa zu warnen. Dann wieder fiel ihr ein, wie dumm sie Frau Zwirn vorkommen würde, wenn sie ihr dabei in die Hände lief.
Schließlich mußte sie wieder eingeschlafen sein, denn plötzlich war es heller Tag, und Max war schon halb angezogen. Sie blieb noch einen Augenblick liegen, sie war sehr müde und spürte, wie die Gedanken der vergangenen Nacht wieder wach wurden. Aber jetzt, am hellen Morgen, kamen sie ihr doch unwirklich vor.
»Max?« fragte sie vorsichtig.
Max hatte ein offenes Schulbuch vor sich auf dem Tisch und blickte, während er Schuhe und Strümpfe anzog, gelegentlich hinein.
»Tut mir leid«, sagte Max. »Wir machen heute eine Lateinarbeit, und ich habe nicht geübt.« Er schaute wieder ins Buch, murmelte Verben und Zeitformen.
Es war wohl auch nicht wichtig, dachte Anna. Es war schon alles in Ordnung.
Aber beim Frühstück war keine Postkarte von Mama und Papa da.
»Was meinst du, warum sie nicht gekommen ist?« fragte sie Max.
»Postverzögerung«, sagte Max undeutlich mit vollem Mund. »Tschüss!« und er rannte davon, um den Zug nicht zu verpassen.
»Sie kommt bestimmt heute nachmittag«, sagte Herr Zwirn. Aber sie machte sich den ganzen Vormittag in der Schule Sorgen, saß da und kaute auf ihrem Bleistift herum, statt eine Beschreibung des Sonnenaufgangs in den Bergen niederzuschreiben.
»Was ist los mit dir?« fragte
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