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Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
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fertig war, gar nicht mehr paßte.
    Die Ankündigung der Nähprüfung versetzte sie daher in tiefe Niedergeschlagenheit, die noch zunahm, als man ihr ein viereckiges Stück Stoff, Nadel und Faden und ein paar unverständliche Anweisungen gab. Eine halbe Stunde lang riet sie verzweifelt herum, zerriß den Faden und zerrte aufgeregt an Knoten, die sich, sie wußte nicht wie, bildeten, und schließlich lieferte sie einen so zerknitterten und ausgefransten Lappen ab, daß die Lehrerin, die die Arbeiten einsammelte, bei seinem Anblick zurückfuhr. Während des Frühstücks auf dem Schulhof mit Colette war sie ganz niedergeschlagen.
    »Wenn man in einem Fach versagt, ist dann das ganze Examen umsonst?« fragte Anna, während sie auf einer Bank im Schatten ihr Butterbrot aßen.
    »Ich fürchte ja«, sagte Colette, »außer man besteht in einem anderen Fach mit Auszeichnung. Das gilt dann als Ausgleich.«
    Anna ließ sich die Arbeiten, die sie schon hinter sich hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Außer dem Nähen hatte sie alle gut geschafft. Aber das reichte gewiß nicht aus, um mit Auszeichnung zu bestehen. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie bestand, schien sehr gering.
    Als sie aber am Nachmittag die Themen für den französischen Aufsatz erfuhr, faßte sie wieder Mut.
    Man konnte aus drei Themen wählen, und eins hieß: »Eine Reise.« Anna entschloß sich, zu beschreiben, wie sie sich Papas Reise vorstellte, als er mit hohem Fieber von Berlin nach Prag fuhr und nicht wußte, ob man ihn an der Grenze anhalten würde. Sie hatten eine ganze Stunde dafür, und während sie schrieb, konnte sie sich Papas Reise immer lebhafter vorstellen. Sie glaubte, genau zu wissen, wie es gewesen war, und wie sich wegen des Fiebers seine Befürchtungen und das, was wirklich geschah, immer vermischt hatten. Als Papa in Prag ankam, hatte sie beinahe fünf Seiten geschrieben, und sie hatte eben noch Zeit, sie auf Rechtschreibung und Zeichensetzung durchzusehen, bevor die Arbeiten eingesammelt wurden. Ihr schien, daß dies einer der besten Aufsätze war, die sie je geschrieben hatte, und wenn nicht das biestige Nähen gewesen wäre, würde sie bestimmt bestehen.
    Die einzigen Prüfungen, die jetzt noch ausstanden, waren die im Singen und Turnen. Jedes Kind mußte einzeln singen, aber da die Zeit vorgeschritten war, ging alles sehr schnell.
    »Sing die Marseillaise«, forderte die Lehrerin sie auf, aber als Anna die ersten Takte gesungen hatte, unterbrach sie sie. »Gut - das genügt«, sagte sie, und dann rief sie: »Die nächste!« Für das Turnen blieben nur noch zehn Minuten.
    »Schnell, schnell«, rief die Lehrerin, trieb die Kinder auf den Hof und ließ sie sich aufstellen. Eine andere Lehrerin half dabei. Sie stellten die Kinder in vier langen Reihen im Abstand von ein bis zwei Metern auf.
    »Achtung«, rief eine der Lehrerinnen, »wir stehen auf dem rechten Bein und heben das linke Bein nach vorn.«
    Alle gehorchten, nur Colette hatte zuerst auf dem linken Bein gestanden und mußte es schnell und heimlich wechseln. Anna stand kerzengerade, die Arme zur Seite gestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, und hob das linke Bein so hoch sie konnte.
    Aus den Augenwinkeln konnte sie die anderen sehen, und niemandes Bein war so hoch wie das ihre. Die beiden Lehrerinnen gingen durch die Reihen. Einige Mädchen fingen an zu wackeln und das Gleichgewicht zu verlieren, und die Prüfer machten sich Notizen auf ein Blatt Papier. Als sie zu Anna kamen, blieben sie stehen.
    »Sehr gut«, sagte die eine.
    »Wirklich ausgezeichnet«, sagte die andere, »was meinen Sie...?«
    »Oh, ganz entschieden!« sagte die erste Lehrerin und machte ein Zeichen auf das Blatt Papier.
    »Fertig. Ihr könnt nach Hause gehen!« riefen sie, als sie bis ans Ende der Reihe gekommen waren, und Colette stürzte auf Anna zu und umarmte sie.
    »Du hast’s geschafft, du hast’s geschafft!« rief sie,
    »du hast ein Ausgezeichnet im Turnen, es ist also ganz gleich, wenn du im Nähen durchgefallen bist.«
    »Glaubst du wirklich?« sagte Anna, aber sie fühlte sich selbst ziemlich sicher.
    Glühend vor Freude ging sie durch die heißen Straßen und konnte es kaum erwarten, Mama alles zu erzählen.
    »Willst du etwa sagen, daß es, weil du so ruhig auf einem Bein gestanden hast, nichts ausmacht, daß du nicht nähen kannst?« sagte Mama. »Was für ein seltsames Examen.«
    »Ich weiß«, sagte Anna, »aber ich glaube, Französisch und Rechnen sind die wirklichen wichtigen

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