Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl

Titel: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kerr
Vom Netzwerk:
Ostern bei Großtante Sarah an und besuchte Mama und die Kinder am folgenden Nachmittag. Mit Hilfe der Concierge (deren Bein besser geworden war), hatte Mama die Wohnung gesäubert und aufgeräumt und das Beste daraus gemacht, aber nichts konnte über die Tatsache hinwegtäuschen, daß sie sehr klein und spärlich möbliert war.
    »Kannst du nichts Größeres finden?« fragte Omama, als sie alle von dem roten Wachstuch im Eßzimmer Tee tranken.
    »Eine größere Wohnung würde mehr Geld kosten«, sagte Mama und legte Omama von ihrem selbstgebackenen Apfelkuchen vor. »Wir können uns diese hier kaum leisten.«
    »Aber dein Mann...« Omama schien ganz überrascht.
    »Es ist die Wirtschaftskrise, Mutter«, sagte Mama.
    »Davon hast du doch bestimmt gelesen! Wo so viele französische Journalisten arbeitslos sind, wird keine französische Zeitung einen Deutschen bitten, für sie zu schreiben, und die Pariser Zeitung kann es sich nicht leisten, viel zu zahlen.«
    »Ja, aber trotzdem...« Omama sah sich in dem kleinen Zimmer um, ziemlich unhöflich, wie Anna fand, denn schließlich war es gar nicht so übel, und gerade in diesem Augenblick wippte Max mit seinem Stuhl, und stürzte mit dem Teller voll Apfelkuchen hintenüber auf den Boden »...hier können doch keine Kinder aufwachsen«, beendete Omama ihren Satz, genau als habe Max ihrem Gedanken zum Ausdruck verhelfen.
    Anna und Max brachen in hemmungsloses Gelächter aus, aber Mama sagte in ziemlich scharfem Ton:
    »Unsinn, Mutter!« Und dann sagte sie Max, er solle hinausgehen und sich säubern. »Tatsächlich entwickeln die Kinder sich sehr gut«, sagte sie zu Omama, und als Max außer Hörweite war, fügte sie hinzu:
    »Max arbeitet zum ersten Mal in seinem Leben.«
    »Und ich werde für das certificat d’études geprüft«, sagte Anna.
    Dies war ihre große Neuigkeit. Madame Socrate hatte gesagt, sie habe sich so gebessert, daß kein Grund mehr bestehe, warum sie nicht im Sommer mit dem Rest der Klasse ins Examen gehen sollte.
    »Das certificat d’études?« sagte Omama, »Ist das nicht eine Art von Elementarschul-Examen?«
    »Es ist für zwölfjährige französische Kinder«, sagte Mama, »und Annas Lehrerin hält es für bemerkenswert, daß sie so schnell aufgeholt hat.«
    Aber Omama schüttelte den Kopf.
    »Es kommt mir alles so seltsam vor«, sagte sie und blickte Mama traurig an. »So verschieden von der Art, wie ihr erzogen worden seid.«
    Sie hatte allen ein Geschenk mitgebracht, und wie in der Schweiz unternahm sie während ihres Aufenthaltes in Paris mehrere Ausflüge mit Mama und den Kindern, die das sehr genossen, weil sie sich das normalerweise nie hätten erlauben können. Aber in Wirklichkeit verstand Omama ihr neues Leben nicht.
    »So sollten Kinder nicht aufwachsen«, wurde eine Art von Schlagwort in der Familie.
    »So sollten Kinder nicht aufwachsen«, sagte Max zum Beispiel vorwurfsvoll zu Mama, wenn diese vergessen hatte, ihm Schulbrote mitzugeben, und Anna schüttelte den Kopf, und sagte: »So sollten Kinder nicht aufwachsen«, wenn Max das Treppengeländer hinunterrutschte und die Concierge ihn dabei erwischte. Nach einem von Omamas Besuchen fragte Papa, der es gewöhnlich vermied, sie zu treffen: »Wie war deine Mutter?« Anna hörte Mama antworten:
    »Freundlich und völlig phantasielos wie gewöhnlich.«
    Als Omama in den Süden Frankreichs zurückfahren mußte, umarmte sie Mama und die Kinder zärtlich.
    »Und denk daran«, sagte sie zu Mama, »wenn du je in Schwierigkeiten bist, kannst du mir die Kinder schicken.«
    Anna fing einen Blick von Max auf und murmelte: »So sollten Kinder nicht aufwachsen!« und obgleich es ihnen, wenn sie an Omamas Güte dachten, gemein vorkam, mußten sie beide schreckliche Grimassen schneiden, um nicht in Lachen auszuplatzen.
    Nach den Osterferien konnte Anna es kaum erwarten, bis die Schule wieder anfing. Es gefiel ihr alles so gut, seit sie gelernt hatte, richtig französisch zu sprechen. Plötzlich schien die Arbeit ganz leicht, und sie hatte Freude daran gefunden, Geschichten und Aufsätze auf Französisch zu schreiben. Es war ganz anders als deutsch zu schreiben. Man konnte sich mit den französischen Wörtern viel eleganter ausdrücken - und das fand sie seltsam aufregend.
    Sogar die Hausaufgaben waren jetzt nicht mehr eine solche Last. Am schlimmsten waren die langen französischen Stücke, die für Geschichte und Erdkunde auswendig gelernt werden mußten, aber Anna und Max hatten eine Methode

Weitere Kostenlose Bücher