Als Hitler das rosa Kaninchen stahl
entdeckt, wie man auch damit fertig werden konnte. Wenn sie die entsprechenden Abschnitte als letztes vor dem Einschlafen lernten, konnten sie sie am Morgen. Am Nachmittag fingen sie schon an zu verblassen, und am nächsten Tag waren sie ganz vergessen - aber sie blieben so lange im Gedächtnis, wie man sie brauchte.
Eines Abends kam Papa in ihr Schlafzimmer, als sie sich gerade gegenseitig abhörten. Anna mußte über Napoleon lernen, und Papa machte ein erstauntes Gesicht, als sie ihr Stück herunterschnurrte. Es fing an mit: »Napoleon wurde auf Korsika geboren«, und dann folgte eine lange Liste von Daten und Schlachten, bis es endlich hieß: »Er starb im Jahre 1821.«
»Was für eine seltsame Art, etwas über Napoleon zu lernen«, sagte Papa. »Ist das alles, was du über ihn weißt?«
»Aber mehr muß man nicht wissen«, sagte Anna ziemlich beleidigt, besonders, da sie keinen einzigen Fehler gemacht hatte.
»Nein, es ist nicht alles«, sagte Papa. Dann setzte er sich auf ihr Bett und begann über Napoleon zu sprechen. Er erzählte den Kindern von Napoleons Kindheit auf Korsika, von seinen vielen Brüdern und Schwestern, wie glänzend er in der Schule war, daß er mit fünfzehn Offizier und mit sechsundzwanzig Befehlshaber der gesamten französischen Armee war; wie er seine Geschwister zu Königen und Königinnen der Länder machte, die er erobert hatte, wie das alles nie seine Mutter, eine italienische Bauersfrau, hatte beeindrucken können.
»C’est bien pourvu que ca dure«, sagte sie immer mißbilligend, wenn Nachrichten von neuen Triumphen kamen, und das hieß: »Es ist gut, solange es dauert.«
Dann erzählte er ihnen, wie ihre bösen Vorahnungen sich bestätigt hatten, wie die halbe französische Armee bei dem unglücklichen Feldzug gegen Rußland umkam, und wie Napoleon schließlich einsam auf der winzigen Insel St. Helena gestorben war.
Anna und Max lauschten aufmerksam.
»Es ist genau wie ein Film«, sagte Max.
»Ja«, sagte Papa nachdenklich, »ja, das stimmt.«
»Es ist schön, daß Papa jetzt mehr Zeit hat, mit uns zu reden«, dachte Anna. Es lag daran, daß wegen der Wirtschaftskrise die Pariser Zeitung ihren Umfang verringert hatte und nicht mehr so viele seiner Artikel drucken konnte. Papa und Mama fanden das gar nicht gut, und besonders Mama machte sich ständig Sorgen wegen des Geldes.
»Wir können so nicht weitermachen«, hörte Anna sie einmal zu Papa sagen. »Ich wußte immer, daß wir sofort hätten nach England gehen sollen.«
Aber Papa zuckte nur die Schultern und sagte: »Es wird sich finden.«
Bald danach wurde Papa wieder sehr geschäftig, und Anna konnte ihn in seinem Zimmer bis spät in die Nacht tippen hören. Sie nahm also an, daß »es sich gefunden« hatte und machte sich keine Gedanken mehr darüber. Sie war auch jetzt zu sehr mit der Schule beschäftigt, um das, was zu Hause vorging, genau zu beobachten. Das certificat d’études rückte immer näher, und Anna war entschlossen, die Prüfung zu bestehen. Das würde, da sie erst ein Jahr und neun Monate in Frankreich war, gewiß ein großer Sieg sein.
Schließlich war der Prüfungstag gekommen, und an einem heißen Julimorgen führte Madame Socrate ihre Klasse über die Straße zu einer benachbarten Schule.
Das Examen sollte von fremden Lehrern abgenommen werden, damit alles ganz gerecht zuging. Alles sollte an einem Tag erledigt werden, so daß für die einzelnen der vielen Prüfungsfächer nicht viel Zeit blieb. Diese Fächer waren: Französisch, Rechnen, Geschichte, Erdkunde, Singen, Handarbeit, Kunst und Turnen.
Zuerst kam Rechnen dran. Eine Stunde lang wurde schriftlich gerechnet, und Anna hatte das Gefühl, ganz gut abgeschnitten zu haben, dann kam ein französisches Diktat, dann eine Pause von zehn Minuten.
»Wie ist es gegangen?« fragte Anna Colette.
»Ganz gut«, sagte Colette.
Bis jetzt war es nicht so schlimm gewesen.
Nach der Pause bekamen sie zwei Blätter mit Fragen aus der Geschichte und Erdkunde; für jedes Blatt hatten sie eine halbe Stunde Zeit, Und dann - kam das Unglück!
Im Nähen war Anna ganz schlecht. Sie konnte sich die Namen der verschiedenen Stiche nicht merken, und - vielleicht weil Mama es so schlecht konnte - fand sie, daß es reine Zeitverschwendung sei. Sogar Madame Socrate hatte ihr Interesse fürs Nähen nie wecken können. Sie hatte eine Schürze zugeschnitten, die Anna säumen sollte, aber Anna war so langsam bei der Arbeit gewesen, daß ihr die Schürze, als sie
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