Als ich lernte zu fliegen
Lila achtlos auf den Tisch geworfen hat, noch einmal durch. »Darüber gibt es schon genug; bei Autisten mit Inselbegabungen denkt man sowieso immer an Mathematikgenies. Aber diesmal sind andere Dinge wichtig – was in dir vorgeht, deine einzigartige Weltsicht, deine synästhetische Wahrnehmung, das Zusammenspiel deiner verschiedenen Sinne. Wahrscheinlich bist du ein Glücksfall für sie, nicht viele Menschen mit synästhetischer Wahrnehmung können dieses Phänomen so gut beschreiben wie du, dazu reichen ihre kommunikativen Fähigkeiten nicht.« Er wendet sich wieder an Wesley. »Yas bekommt immer Komplimente für ihre kommunikativen Fähigkeiten.«
»Ich bin nicht mehr so schlimm wie früher«, bestätigt Yasmin. Mit ungewohntem Redefluss fährt sie fort, als wiederhole sie etwas Einstudiertes: »Ich glaube, ich sollte den Leuten von mir erzählen, damit sie wissen, wie es ist, wenn man neurologisch nicht der Norm entspricht. Ich trage die Verantwortung, dass sie etwas über mich erfahren. Mum hat immer gesagt, meine Fähigkeiten wären auch mit Verantwortung verbunden.«
»Das ist doch total bescheuert«, ereifert sich Lila. »Yasmin, du denkst doch nicht im Ernst daran, da mitzumachen? Den Zirkusaffen für eine Reality-Show abzugeben – immer schielt dir jemand über die Schulter, während du Mätzchen machst wie ein dressierter Schimpanse. Das ist doch entwürdigend! Und außerdem Betrug – du hast doch gar keine Spezialbegabungen, sondern nur ein gutes Gedächtnis. Von Asperger kann kaum die Rede sein. Was soll dir denn fehlen? So verdammt besonders bist du auch wieder nicht.«
»Schluss jetzt!« Asif wünscht sich, er würde nicht so sehr wie Mum klingen; er weiß aber auch, dass Lila nicht noch einmal in dasselbe Fettnäpfchen treten wird. Warum ist die Rolle des Vernünftigen ausgerechnet an ihm hängen geblieben? Warum konnte er nicht wie Lila ständig seine Spielsachen aus dem Kinderwagen werfen und deshalb als interessant und aufregend wahrgenommen werden statt als lästige Nervensäge? »Bei Yasmin wurde diese Diagnose gestellt. Du bist keine Spezialistin, du hast nicht die nötige Kompetenz, um sie anzuzweifeln.«
»Na schön«, sagt Lila kalt. »W enn du so ein tolles Gedächtnis hast, Yas, dann sag mir doch: Was hattest du an am … sagen wir mal, am … 20 . Mai … 2004 ?«
Asif wird starr vor Entsetzen, seine Gabel mit dem Krabben-Biryani stockt auf halbem Weg zum Mund. Yasmin steht abrupt auf, der Teller fällt ihr vom Schoß, und die Teigtaschen zerbrechen auf dem Teppich. Sie ballt die Fäuste und verzieht das Gesicht, als würde sie gleich anfangen zu schreien oder zu schluchzen, aber dann stürzt sie nur aus dem Wohnzimmer, die Treppe hinauf. Im nächsten Moment dröhnt aus ihrem Zimmer in höchster Lautstärke Wagners Ritt der Walküren . Ein paar Sekunden später ist alles still.
»Sie hat die Kopfhörer eingesteckt«, wendet sich Asif müde an Wesley. »W as zum Teufel ist bloß los mit dir, Lila?«
Wesley sieht Asif unbehaglich an. »Yas hat sich wohl nicht erinnert, was sie an diesem zufälligen Tag getragen hat?«, fragt er, als hätte Lila Yasmins Fähigkeiten zu Recht angezweifelt. »Ist sie deshalb so ausgerastet?«
»Das ist kein zufälliger Tag«, antwortet Asif leise. »Das ist der Tag, an dem Mum gestorben ist.«
Jetzt ist auch Wesley entsetzt. »Mein Gott, du bist echt ein Biest, Lila«, sagt er.
Lila zeigt nicht die geringste Reue. »Ach verpiss dich doch, du eingebildeter, scheinheiliger Musterknabe!«, entgegnet sie gehässig. Da steht Wesley kurzerhand auf, etwas wie Abscheu im Blick; dann dreht er sich um und sieht Asif halb mitleidig, halb anklagend an. Wortlos verlässt er den Raum, und kurz darauf schlägt die Haustür zu.
Asif sieht Lila an, die sich missmutig mit untergeschlagenen Beinen in den Sessel kauert. Sie macht keine Anstalten, Wesley nachzulaufen. Also isst Asif mit ein paar raschen Bissen sein Biryani auf und macht sich anschließend daran, Yasmins Teigtäschchen und die blättrigen, im Teppichflor verfangenen Brösel aufzusammeln. »Lass das doch«, sagt Lila gereizt. Ohne zu antworten, fährt Asif mit seiner Arbeit fort, wie beide von vornherein wussten. Klar war auch, was Lila als Nächstes sagen würde: »Ich geh gleich rauf und entschuldige mich bei Yas.«
»W as ist mit Wesley?«, fragt Asif.
»Den ruf ich morgen an. Er hat recht, ich bin ein Biest, stimmt doch, oder?«
Asif schüttelt den Kopf, setzt sich zu Lila auf die Sesselkante und
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