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Als ich lernte zu fliegen

Als ich lernte zu fliegen

Titel: Als ich lernte zu fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roopa Farooki
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an auch so. Als Mum starb, war es, als hätte jemand meine Festplatte gelöscht, so dass alle üblichen Details verloren gingen, an die ich mich sonst erinnere. Stattdessen erinnere ich mich nur an ein paar Bruchstücke, und an die nicht sehr deutlich, sie sind wie Bilder aus einem verwackelten alten Stummfilm, der in einer Endlosschleife in meinem Kopf abläuft. Ich erinnere mich, dass Asif Wasser übers Gesicht lief (er weinte , ich weiß, dass man das weinen nennt, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er dabei schluchzte oder andere Geräusche machte – nennt man das dann trotzdem weinen?), und ich erinnere mich, dass Lilas Gesicht ganz rosa war, als wäre sie gerannt, mit roten Flecken um die Augen und auf den Wangen, und sie schrie mich an und schüttelte mich, aber ich hörte keinen Ton, deshalb sah es aus, als ob sich ihr Mund öffnete und schloss wie bei einem Goldfisch. Ich erinnere mich, wie ich in der Ecke saß, die Zeigefinger fest auf die Ohren drückte und summte, um das weiße Rauschen zu erzeugen, das ich so mag, aber ich weiß nicht mehr, ob ich es wirklich gehört habe, obwohl ich mich gern an das Rauschen erinnern würde, denn das wäre tröstlich – wenn ich an diesen Vormittag denke, fühle ich mich nicht wohl und würde gern getröstet werden. Ich glaubte, ich hätte die Augen fest zugekniffen, aber das kann nicht sein, weil ich mich deutlich an das Wasser auf Asifs Gesicht und an die roten Flecken um Lilas Augen erinnere, aber ich könnte nicht sagen, was sie anhatten oder wie viele Knöpfe sie zugeknöpft hatten. Ich könnte nicht einmal raten, weil ich es unnatürlich finde, eine Erinnerungslücke durch Raten zu schließen, denn das wäre ja nur zusammenfantasiert, und obwohl ich viel nachdenke, bin ich nicht sehr fantasievoll. Lila sagt, ich würde alles nur logisch ableiten. Damit will sie mich wohl beleidigen, aber das trifft mich nicht, weil Beleidigungen kränkend sind, und ich bin nicht gekränkt, weil ich tatsächlich alles, was ich denke, von wirklichen Dingen ableite und nicht aus dem Nichts heraus erfinde. Außerdem sind viele Leute, die sich für fantasievoll halten und glauben, sie erfinden etwas aus dem Nichts heraus, gar nicht so originell oder kreativ, wie sie meinen, weil sie nur andere Leute kopieren und das nicht einmal wissen, denn sie erinnern sich nicht, wie oder warum sie auf diese oder jene Idee gekommen sind. Die meisten Ideen zirkulieren in großen Kreisen und werden immer wieder benutzt wie ein Stapel Teller, und im Gegensatz zu mir können die meisten Leute ihre Quellen nicht nennen. Die Farbe dieser Erinnerungsbruchstücke ist Rot mit orangefarbenen Flecken, Farben, die ich immer mit Zorn, lauten Stimmen, Veränderungen und Wutanfällen verbinde, und die Musik, die diese tonlosen Erinnerungen begleitet, ähnelt Wagners Ritt der Walküren . Es ist, als hätten diese Erinnerungen eine schleimige, feuchte Oberfläche wie Schaum auf einem Teich, der fest aussieht, aber wenn man ihn anfassen will, die Hand verschluckt; sie fühlen sich heiß an und gleichzeitig kalt, wie wenn man krank ist und Schüttelfrost hat, wie wenn man lange ohne Mantel im Regen herumgelaufen ist und dann ein überheiztes Haus betritt.
    Bei der Beisetzung war es anders, da erinnere ich mich an alles. Wirklich alles. Ich habe die Zahl der Glasscheiben in den unechten Buntglasfenstern im Krematorium gezählt, die mit nichtreligiösen Motiven verziert waren, Bäumen, Flüssen, Sonnenuntergängen, und wenn Sie mir Stift und Papier geben, könnte ich immer noch jedes Detail davon aufzeichnen, dabei ist die Feier über fünf Jahre her. Manche Leute haben gesagt, es wäre mir egal gewesen, dass meine Mum gestorben ist, weil ich mit den Fingern Schattenhasen an die Wand geworfen habe, wo die Sonne zu stark hinschien. Meiner Mum waren die Hasen egal, sie lag ja in ihrer Kiste, und wenn sie nicht tot gewesen wäre und schon am Verwesen und nicht bald verbrannt worden wäre, hätte sie mir sicher gern dabei zugesehen, weil meine Mum oft Schattenspiele mit mir gemacht hat, damit ich mich nicht vor Schatten oder grellem Licht fürchte. Asif hat bei der Beisetzung nicht geweint, und Lila hat mich nicht angeschrien, und obwohl alle mit lauter Stimme gesungen haben, war niemand zornig, aber Abweichungen vom normalen Tagesablauf gab es schon, weil ich an diesem Tag nicht wie sonst zur Schule gehen konnte. Deshalb war ich etwas aus dem Gleichgewicht, habe aber versucht, es nicht zu zeigen, und habe es

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