Als ich unsichtbar war
schwimmen, stehlen und kämpfen, meinen Feinden entgegentreten und sie austricksen. Ich lachte, als die Piraten auf mich zustürzten.
»Ihr kriegt mich nie!«, rief ich und sprang von der Takelage in die Tiefe.
Ich fiel tief und tiefer, mein Körper schoss wie ein Pfeil ins tiefblaue Wasser, das sich über mir schloss. Ich wusste, dass mich das Meer gefahrlos weit tragen würde. Ich würde meinen Vater finden und eines Tages erneut kämpfen. Ich war der Piratenjunge und kein Gefangener!
In solche Fantasien tauchte ich regelmäßig ein, um diesem beängstigenden Gefühl zu entkommen, das mich zu überwältigen drohte, wenn ich befürchtete, für immer eingekerkert zu sein. Heute wünsche ich mir manchmal, mich wieder in derartige Traumwelten zurückziehen zu können, wenn ich auf dem Weg in die Realität eine außerordentliche Folter aus Hoffnung, Angst und Freude durchmache. Tief in meinem Inneren weiß ich natürlich, dass ich mich nicht mehr in Fantasien zu flüchten brauche, denn ich lebe endlich reales Leben. Doch ich werde immer dankbar für meine Einbildungskraft sein, denn sie war der Schlüssel, der mein Gefängnis öffnete und mir die Flucht ermöglichte, die Tür, durch die ich in neue Welten eintreten konnte, die es zu erobern galt – der Ort, an dem ich zum ersten Mal frei war.
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15
Spiegelei
D as Band um meinen Kopf sitzt stramm heute Morgen, als ich an meinem Computer übe. In der Mitte des Bandes befindet sich ein kleiner schwarzer Punkt, mit dessen Hilfe ich einen Infrarotstrahl auf den Bildschirm des Computers zu schicken versuche, indem ich meinen Kopf leicht drehe. Wenn ich meine kraftlosen Hände auf einen meiner Schalter presse, gelingt es mir, das Wort zu wählen, das ich sagen möchte. Diese Vorrichtung soll den Kommunikationsprozess beschleunigen helfen, doch es erfordert großen Einsatz, den Umgang mit dem Gerät zu lernen.
Der Wunsch, mein Kommunikationssystem zu beherrschen, ist zeit- und kraftraubend. Ich muss versuchen, meine Schalter zu bedienen und mich zu erinnern, wo sich die Symbole, die wir in den Computer eingegeben haben, innerhalb der Wortgitter befinden. An den meisten Tagen gehe ich noch für ein paar Stunden ins Pflegeheim, damit meine Mutter noch ein wenig Zeit für sich selbst hat, doch statt mich – wie früher – in Fantasien zu verlieren, überfliege ich jetzt im Geiste Bilder der Gitter, um zu testen, ob ich den Weg von einem zum anderen finde und noch weiß, wo bestimmte Wörter gespeichert sind. Wenn ich nach Hause komme, arbeite ich sechs, sieben oder acht Stunden, und manchmal verbringe ich meine Zeit damit, mich selbst ›sprechen‹ zu hören. Wie ein Kind im Süßwarengeschäft stopfe ich mich dann damit voll: Verben sind meine Schokoladenbonbons, Substantive meine klebrigen kandierten Äpfel, Adverbien meine Sahnehäubchen und Adjektive mein Lakritzkonfekt. Nachts im Bett schießen mir Symbole durch den Kopf und geistern in meinen Träumen herum.
Jetzt beobachte ich, wie im Gitter jedes einzelne Wortfeld eins nach dem anderen aufleuchtet. Das Gitter enthält Wörter, die das Frühstück betreffen, und die anderen Symbole, die ich bereits für den Satz gewählt habe, schweben oben auf dem Bildschirm. › Ich möchte ‹, ›g erne ‹, › Oran g ensaft ‹, › und ‹, › Kaffee ‹ verharren geduldig wie eine Menschenschlange an der Bushaltestelle, die auf den Bus wartet und die Hoffnung schon fast aufgegeben hat, weil man hier schon so lange steht. Jedes Mal, wenn ich ein Symbol auswähle, muss ich mich gedulden, bis der Cursor zum Anfang des Gitters zurückgeht und dann langsam wieder jedes Wortfeld anklickt. Jetzt warte ich, da ich meine Mutter heute Morgen zum Frühstück um ein Spiegelei sowie Kaffee und Saft bitten möchte.
Das Bild einer dampfenden Tasse – › Pulverkaffee ‹ – leuchtet auf. Danach das Bild eines Kartons – › Milch ‹.
› Honig‹.
› Toast ‹.
› Muffin ‹.
› Haferbrei ‹.
› Erdbeere ‹.
› Aprikose‹.
› Marmelade ‹.
› Gelee ‹.
› Butter ‹.
› Margarine‹.
› Grapefruit‹.
› Orange‹.
› Banane ‹.
› Rosinenbrot ‹.
Es fehlt nur noch eine weitere Reihe von Wörtern.
Ich beobachte, wie › Omelett ‹, › Tomate ‹ und › Würstchen ‹ aufleuchten. Der Cursor wandert zu der Reihe, die mit › Schinkenspeck‹ beginnt und mit › Spiegelei‹ endet. Das ist das Symbol, das ich haben will. Ich weide mich an dem Wissen, mich jetzt ganz konkret äußern zu
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