Als ich unsichtbar war
Weshalb sonst hätte sie einen so ungebrochenen Glauben an mich? Vor langem schon habe ich aufgehört, auf die Sticheleien des Personals zu hören, die sich darüber mokieren, wie viel Zeit Virna mit mir verbringt. Doch neuerdings beginne ich darüber nachzudenken, was sie sagen, und ich weiß, dass Virnas Augen freudig funkeln, wenn sie fragt, wie ich mit meinem Computer vorankomme. Viel kann ich ihr nicht darüber berichten, denn aus Angst, er könne kaputtgehen, nehme ich meinen Computer nicht mit ins Heim. Er ist viel zu kostbar dafür. Doch Virna stellt mir Fragen, die ich jetzt mit größerer Sicherheit beantworten kann, da meine Kopfbewegungen gezielter werden und auch meine Hände ein bisschen stabiler geworden sind. Wie eine alte verrostete Maschine, die durch Gebrauch reibungsloser zu laufen beginnt, gewinnt mein Körper an Kraft.
Doch es ist nicht nur Virnas Interesse an meinen Fortschritten, das mir sagt, dass sie mich gern hat; sie hat es mir auch auf anderem Weg vermittelt: Indem sie mir ein Mobile geschenkt hat, das sie aus Drahtfischen gebastelt hat, verziert mit meergrünen und blauen Murmeln. Das hängt jetzt in meinem Schlafzimmer. Außerdem ist sie zu meinem Geburtstag gekommen. Virna ist der einzige Mensch, der mich jemals zu Hause besucht hat, außer meinem Schulfreund Stephen, der über die Jahre hinweg bei mir vorbeischaute, nachdem ich krank geworden war. Zu jedem Geburtstag erschien er mit einer Glückwunschkarte, die er mir vorlas. Aber Stephen habe ich schon lange nicht mehr gesehen, da er wegzog, um Medizin zu studieren. Deshalb war ich total überwältigt, als Virna mich besuchen kam. Das war sogar schon vor den Tests, und sie schenkte mir eine Schachtel, die sie als Geburtstagsgeschenk für mich bemalt hatte. Niemand außer Virna glaubte damals an mich, und ich starrte voller Erwartung auf die Schachtel, die ich so behutsam wie eine kostbare Reliquie behandelte, während sie und ihre Cousine Kim sich mit meinen Eltern unterhielten.
»Wir kommen wieder«, sagte Virna sanft, als sie aufstand und mich anlächelte. »Es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir dich besucht haben.«
Deshalb bin ich jetzt so zuversichtlich, Virna könne sich vielleicht noch mehr um mich kümmern, da ich doch das Kommunizieren lerne. Bald werde ich so weit sein, alles zu sagen, was ich will, schnell und leicht über jedes Thema zu reden, und dann wäre ich jene Art Mensch, die Virna vielleicht mag.
Ich überlege, weshalb es mich so überrascht, dass ich mich in sie verliebt habe. Die Hinweise auf meine Gefühle existierten die ganze Zeit über, und ich hätte nur weit genug zurückzublicken brauchen, um sie zu erkennen. Kurz nachdem Virna im Heim zu arbeiten begann, hörte ich ein Gespräch, das mir alles hätte sagen können, was ich wissen musste. Eifersucht plagte mich, als sie einer anderen Pflegerin erzählte, sie habe sich mit einem Mann, den sie kennengelernt hatte, zu einem Kinobesuch verabredet. Wie gerne wäre ich derjenige gewesen, der Virna ausgeführt und zum Lachen gebracht hätte!
Danach hörte ich nichts mehr über den Mann, bis sie sich ein paar Monate später gegenüber Marietta über ihn äußerte. Doch diesmal glänzten ihre Augen nicht, als sie von ihm erzählte.
»Der ist es doch gar nicht wert, sich über ihn aufzuregen«, sagte Marietta zu Virna. »Du musst ihn einfach vergessen. Andere Mütter haben auch schöne Söhne.«
Virna schenkte Marietta ein schwaches Lächeln, und ich konnte sehen, dass sie aufgewühlt war. Was für ein Idiot dieser Mann doch sein musste. Sie hatte wirklich etwas für ihn übriggehabt, und er hatte sie verletzt. Das ärgerte mich.
Jetzt muss ich darüber lachen, wenn ich an diesen Tag vor vier Jahren denke, an dem ich hätte merken müssen, dass ich mehr als nur Freundschaft für Virna empfand. Dann schaue ich sie an, während sie sanft mit mir spricht, und ich weiß mit einer Gewissheit wie nie zuvor, dass ich sie liebe.
»Meine Cousine Kim hat einen neuen Typen kennengelernt«, sagt sie, und ihre Stimme ist fröhlich und erregt. »Sie mag ihn wirklich gerne. Eine Zeit lang war sie unsicher, woran sie mit ihm ist, denn sie sind ein paarmal ausgegangen, und er hat nie gesagt, was er will.«
Ich schaue Virna an. Je mehr ich darüber erfahre, was zwischen Männern und Frauen abläuft, desto klarer wird mir, dass die Realität anders ist als das, was man im Fernsehen sieht: Das wirkliche Leben ist nie so einfach. Aber dieser Mann würde Kim doch
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