Als ich unsichtbar war
Wörter und Sätze beschränkt.
Jetzt schaue ich Mam an, während sie mich anstarrt, bevor sie sich dem Bildschirm zuwendet. Bisher haben wir heute dem Gitter die Regenbogenfarben hinzugefügt – Rot, Gelb, Rosa, Grün, Violett und Orange – sowie die anderen offenkundigen Alternativen wie Blau, Schwarz und Braun . Doch nun wird es schwieriger, denn wir bewegen uns auf die anspruchsvolleren Schattierungen des Farbspektrums zu.
»Kirschrot?«, fragt Mam.
Ich verziehe keine Miene.
»Smaragdgrün?«
Ich weiß genau, welches Wort ich will. Wir geraten häufig in eine Sackgasse wie diese, wenn wir ein Gitter entwickeln.
»Magenta?«
Ich reagiere nicht.
»Marineblau?«
Für einen Moment kommt Frustration in mir auf, während ich darauf hoffe, meine Mutter könnte das von mir gewünschte Wort erraten. Gelingt es ihr nicht, werde ich nie in der Lage sein, es zu äußern. Bei jedem Wort, das ich meinem neuen Vokabular hinzufügen möchte, bin ich vollkommen abhängig von ihr.
Manchmal gelingt es, sich dem Wort, das ich meine, über Umwege zu nähern. So betätigte ich vorhin einen Schalter, um das Symbol mit der Zeichnung eines Ohrs anzuklicken, und danach ein anderes mit dem Bild einer Spüle (englisch: sink).
»Klingt es wie ›sink‹?«, fragte Mam. »Meinst du die Farbe ›Pink‹?«
Ich lächelte, und das Wort wurde in mein Gitter eingegeben.
Jetzt geht es mir nur noch um eine Farbschattierung, die ich haben möchte: Türkis. Während Mam die Skala abspult, überlege ich, wie ich die Farbe eines Sommerhimmels beschreiben kann, wenn sie nicht von selbst darauf kommt.
Auch wenn es für mich mitunter frustrierend ist, frage ich mich manchmal, ob der Ehrgeiz meiner Mutter, die von mir gewünschten Wörter zu finden, nicht vielleicht sogar größer ist als mein eigener. Sie ist genauso fasziniert von dieser Aufgabe wie ich und scheint nie müde zu werden, Stunde um Stunde, Tag für Tag mit mir vor dem Computer zu sitzen. Wenn wir mal gerade nicht gemeinsam arbeiten, schleppt meine Mutter Zettel mit sich herum, auf denen sie Wortlisten notiert, weil sie dann schon über das nächste Gitter, das wir angehen können, und die Wörter, die ich dann sammeln könnte, nachdenkt. Denn je weiter unsere Arbeit voranschreitet, desto stärker wird ihr bewusst, wie umfangreich mein Vokabular ist, und ich bemerke die Überraschung in ihren Augen, wenn sie feststellt, wie viel ich weiß.
Ich denke, sie erkennt immer mehr, in welchem Maße ich die ganze Zeit unterschätzt wurde, doch ich habe keine Ahnung, welche Gefühle das bei ihr auslöst. Ich habe den Verdacht, der Gedanke, dass ich jahrelang bei vollem Bewusstsein gewesen bin, erfüllt sie mit Grauen, aber wir sprechen nicht darüber, und ich glaube auch nicht, dass wir es jemals tun werden. Betrachtet sie meine Rehabilitation als Buße für die Sünden der Vergangenheit? Ich kann mir nicht sicher sein, doch bei all ihrem Ehrgeiz und ihrer Hingabe für mich, frage ich mich, ob sie nicht die Erinnerung an diese dunkle Zeit nach Beginn meiner Krankheit und an die zahllosen Streitereien, als David, Kim und Pookie sich zurückzogen und ich in eine Ecke abgeschoben wurde, von sich abwälzen will.
»Schau uns doch an!«, schrie sie damals meinen Vater an. »Bei uns stimmt vorne und hinten nichts mehr! Martin braucht eine besondere Pflege, die wir ihm nicht bieten können, und ich verstehe nicht, weshalb du das nicht zulässt.«
»Weil er bei uns bleiben muss«, brüllte mein Vater zurück, »nicht bei Fremden!«
»Aber denk doch mal an David und Kim. Was ist mit denen? David war so ein kontaktfreudiger kleiner Junge, und jetzt zieht er sich immer mehr zurück. Und ich weiß, dass Kim es tapfer zu nehmen scheint, aber sie braucht mehr Zuwendung von dir. Sie möchte auch mal Zeit mit ihrem Vater verbringen, doch du bist ständig mit Martin beschäftigt. Du hast doch gar keine Möglichkeit, dich neben deinem Einsatz für ihn und deine Arbeit auch noch um den Rest von uns zu kümmern.«
»Na ja, anders geht es nun mal nicht, weil ich der Einzige bin, der für Martin sorgt, oder stimmt das etwa nicht? Tut mir leid, Joan, wir sind eine Familie, und er gehört zu uns. Wir können ihn nicht einfach abschieben. Wir müssen zusammenhalten.«
»Was soll das, Rodney? Wem zuliebe willst du ihn hierbehalten? Deinetwegen, um Martins willen oder für uns? Warum willst du nicht einsehen, dass wir ihn nicht versorgen können? Es wäre besser für ihn, wenn er irgendwo unterkäme, wo man
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